Die Geschichte der Reiseführer in Deutschland

Reiseführer sind seit fast zwei Jahrhunderten treue Begleiter deutscher Reisender. Ihre Entwicklung spiegelt den gesellschaftlichen Wandel wider – vom Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts über den Massentourismus der Wirtschaftswunderzeit bis hin zum digitalen Zeitalter. Dieser Essay zeichnet die Geschichte der Reiseführer in Deutschland nach: von den ersten Handbüchern des 19. Jahrhunderts (etwa Baedeker) über die Klassiker wie Grieben und Woerl, hin zu modernen Verlagen wie DuMont, Michael Müller, Lonely Planet (in deutscher Fassung) und Reise Know-How. Abschließend wird ein Ausblick auf die Zukunft der Reiseführer gegeben.

Die Anfänge im 19. Jahrhundert: Baedeker und die ersten Reiseführer

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Reisen allmählich erschwinglicher wurde und sich eine Vorform des modernen Tourismus entwickelten, entstanden die ersten deutschsprachigen Reiseführer. Karl Baedeker gilt als Pionier: Er gründete 1827 in Koblenz seinen Verlag und veröffentlichte 1832 den ersten Baedeker-Reiseführer. Dieses Handbuch – eine überarbeitete Fassung der „Rheinreise von Mainz bis Köln“ – legte den Grundstein für eine neue Art von Reiseliteratur. Baedekers Führer zeichneten sich durch prägnanten Stil, hohe Genauigkeit und hochwertige Ausstattung mit Karten aus. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wurden besondere Sehenswürdigkeiten mit Sternchen bewertet, und ab 1846 prägten das typische Baedeker-Rot und der Leineneinband mit Goldprägung das Erscheinungsbild. Die handlichen roten Büchlein – etwa „Deutschland und die Schweiz“ oder „Der Rhein“ – wurden zum Synonym des Reiseführers schlechthin. Baedeker erkannte früh den internationalen Markt: Seine Söhne boten ab den späten 1850ern viele Titel auch auf Englisch und Französisch an und schrieben dafür den Familiennamen ohne Umlaut („Baedeker“), was der Marke zu weltweitem Ruf verhalf. Bis zum Ersten Weltkrieg dehnte der Verlag sein Programm auf fast ganz Europa, Nordamerika, Nordafrika und sogar Teile Asiens aus – Baedeker-Führer begleiteten also schon früh deutsche Bildungsreisende und Abenteurer in die Ferne.

baedeker berlin 1900

Baedeker Berlin und Umgebung, 11. Auflage, 1900.  Foto von Heied – CC0, wikimedia

Neben Baedeker etablierten sich weitere Verleger. Theobald Grieben gründete 1853 in Berlin die Reihe „Griebens Reise-Bibliothek“, die praktische Handbücher mit Karten und Plänen für Deutschland und später Europa herausgab. Grieben selbst brachte bis 1863 insgesamt 62 Bände heraus, viele basierend auf eigenen Reisen. Seine Reiseführer – kleinere Broschüren zu Regionen, berühmten Routen, Städten und Kurorten – erwiesen sich als zuverlässig und beliebt. Im Gegensatz zum textlastigen Baedeker enthielten Griebens Führer bereits um 1900 Fotografien, was sie moderner wirken ließ. Einige Titel erreichten enorme Auflagenzahlen: „Berlin und Umgebung“ erschien bis 1941 in der 73. Auflagen. Griebens Verlag wechselte mehrmals den Besitzer (1863 an Albert Goldschmidt, 1955 an Karl Thiemig in München) und modernisierte sein Erscheinungsbild – in den 1950ern im markanten gelb-blauen Design. Die Grieben-Reiseführer waren bis ins späte 20. Jahrhundert ein Klassiker: In den 1970er Jahren umfasste die Reihe über 250 Titel, und 1992 erschien mit „Deutschland-Ost. Die neuen Bundesländer mit Metropole Berlin“ der letzte Band, bevor die traditionsreiche Reihe eingestellt wurde.

Grieben: Reiseführer Holland 1918, von Erremm – wikimedia

Ein weiterer wichtiger Name der Gründerzeit ist Leo Woerl, der ab 1878 seine „Woerl’s Reisehandbücher“ verlegte. Woerl brachte bis 1900 beeindruckende 600 Reiseführer heraus – vom illustrierten Stadtführer bis zum regionalen Handbuch. Sein Verlag, der 1897 nach Leipzig übersiedelte, war zeitweise der wirtschaftlich erfolgreichste Reisebuchverlag der Gründerzeit. Woerls kompakte Führer wie „Illustrierter Führer durch Köln und Umgebung“ (um 1900) oder „Führer durch Salzburg“ boten reichhaltige Informationen und Karten. Diese Vielfalt an Verlagen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeigt: Reiseführer wurden zu einer etablierten Gattung. Sie richteten sich an wohlhabende Bildungsbürger und frühe Touristen, die mit Eisenbahn und Dampfschiff neue Ziele erschlossen. Reiseführer dieser Ära vermittelten nicht nur praktische Reisetipps, sondern auch historisches und kulturelles Wissen – getreu dem Ideal des „Bildungsreisenden“.

Zwischen Kriegen und Wirtschaftswunder: Reiseführer im 20. Jahrhundert

Die frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts stellten Reiseführer-Verlage vor neue Herausforderungen. Nach dem Ersten Weltkrieg brach der Auslandsreiseverkehr zunächst ein – die wirtschaftlich angeschlagenen Deutschen reisten, wenn überhaupt, meist im eigenen Land. Verlage reagierten darauf mit vermehrten Titeln zu deutschen Regionen, für die keine Auslandswährungen nötig waren. Baedeker etwa konzentrierte sich in den 1920er Jahren stärker auf inländische Ziele. Zugleich lebte das Reisen in den „Goldenen Zwanzigern“ wieder auf: Technikaffine Touristen nutzten das Automobil für Ausflüge, die erste Jugendherbergsbewegung ermöglichte jungen Leuten kostengünstiges Reisen, und Sprachführer kamen in Mode, da Auslandsreisen langsam wieder zunahmen. In dieser Zeit erschien beispielsweise Baedekers „Manual of Conversation“ (ein mehrsprachiger Sprachführer für Reisende), um Touristen die Verständigung im Ausland zu erleichtern.

Während der NS-Zeit wurde Reisen aus Propagandazwecken gefördert („Kraft durch Freude“-Reisen), doch die inländischen Reiseziele standen im Vordergrund. Einige Reiseführer passten sich ideologisch an – etwa Ausgaben, die „Deutschlands schönste Gaue“ rühmten – andere Verlage litten unter Repression (der Grieben-Verlag etwa wurde 1939 arisiert, da sein Inhaber jüdisch war. Der Zweite Weltkrieg brachte den Reiseführermarkt nahezu zum Erliegen; viele Verlagshäuser (darunter Baedeker in Leipzig) wurden 1943/44 durch Bombenangriffe zerstört.

Erst in den 1950er Jahren erwachte der Tourismus in Deutschland wieder – zunächst zaghaft. Reiseführer halfen beim Wiederentdecken der Heimat: Beliebt waren z.B. Führer zu den deutschen Mittelgebirgen oder Kulturlandschaften (wie der Merian-Heftreihe, ab 1948, die monatlich Reiseziele in Wort und Bild präsentierte). Gleichzeitig träumte man von Fernreisen, doch die Möglichkeiten blieben begrenzt. Alte Marken wie Baedeker wurden wiederbelebt: 1956 nahm Baedeker den Betrieb im westdeutschen Freiburg i. Br. wieder auf. Bald erschienen neue Ausgaben klassischer Titel – etwa „Die Alpen“ oder „Italien“ – mit aktualisierten Informationen für Nachkriegstouristen.

In den 1960er Jahren kam es dann zum Tourismusboom: Das „Wirtschaftswunder“ bescherte breiten Bevölkerungsschichten genügend Einkommen und Urlaubstage, um auf Reisen zu gehen – insbesondere Pauschalreisen an die Strände Südeuropas lagen im Trend. Reiseführer veränderten sich, um diesen neuen Zielgruppen gerecht zu werden. Neben den traditionellen, textreichen Handbüchern traten nun buntere, leicht verständliche Reisebücher. Beispielsweise brachte der ADAC autofahrerfreundliche Ausflugsführer und Straßenatlanten heraus, und Polyglott (ein Imprint von Langenscheidt) veröffentlichte handliche Reiseführer samt Sprachführer für Pauschaltouristen. Die Inhalte wurden allgemein zugänglicher: weniger gelehrter Ton, mehr praktische Tipps zu Hotels, Restaurants und Badestränden.

Zugleich entstand ein neues Bewusstsein für Kulturreisen. Die Bildungsexpansion der 1960er bedeutete, dass mehr Menschen Abitur und Studium hatten und sich für Kunst, Geschichte und fremde Kulturen interessierten. Verlage reagierten mit speziellen Reihen: Der Kölner DuMont-Verlag etwa startete in den 1960er/70er Jahren neben allgemeinen Reiseführern auch Kunst-Reiseführer, die ausführliche Informationen zur Kultur und Geschichte einer Region boten. Ein Beispiel ist der DuMont Kunst-Reiseführer „Rom“, der „Zweieinhalb Jahrtausende Geschichte, Kunst und Kultur der Ewigen Stadt“ behandelt (Reihe ab ca. 1970) Solche Titel kombinierten Reiseführer und Kulturhandbuch und richteten sich an anspruchsvolle Individualtouristen mit kulturellem Interesse.

In der DDR verlief die Entwicklung anders: Reiseführer dort waren meist staatlich herausgegebene Publikationen (z.B. im Tourist-Verlag) und beschränkten sich auf Reiseziele im Ostblock oder im eigenen Land. Ein freier Reiseführer-Markt wie im Westen existierte nicht, doch viele Ostdeutsche kannten westliche Reiseführer vom Hörensagen – Baedeker oder Grieben hatten legendären Ruf, auch wenn die Bücher offiziell nicht verfügbar waren.

RKH Bestseller Mallorca, 1. Auflage 1989; Foto: if/reisebuch.de

Boom der Individualreisenden (1970er–1980er): Neue Verlage und Zielgruppen

Ab den 1970er Jahren zeichnete sich in Westdeutschland ein Bedeutungswandel ab: Neben dem Pauschaltourismus entwickelte sich eine Individualreiseszene. Junge Leute zogen mit dem Rucksack um die Welt – ob per Interrail durch Europa oder auf dem Hippie-Trail nach Indien. Sie suchten abenteuerliche Routen jenseits der Pauschalangebote. Doch geeignete Reiseführer waren Mangelware, denn die etablierten Reihen deckten nicht die Bedürfnisse von Rucksackreisenden ab. Die vorhandenen Bücher beschrieben meist alle Kirchen und Museen eines Ortes, gaben aber kaum Hinweise zu preiswerten Unterkünften, Routen oder praktischen Fragen der Fortbewegung. Daraus entstand eine Graswurzelbewegung: „Globetrotter schreiben für Globetrotter“.  Erfahrene Weltreisende begannen, ihr Insiderwissen in eigenen Publikationen festzuhalten. Mitte der 1970er bildete sich eine Autorengemeinschaft, die schließlich 1981 den ersten Durchbruch erzielte: In jenem Jahr veröffentlichte der junge Verleger Peter Rump seinen Titel „Bali & Lombok“ – ein Globetrotter Handbuch mit praktischen Tipps zu zwei indonesischen Inseln. Es war Band 19 einer losen Reihe, die von verschiedenen Selbstverlegern im Eigenvertrieb herausgegeben wurden.

Diese Bewegung mündete 1984/85 in der Gründung der Verlegergemeinschaft Individuelles Reisen e.V. (VIR), der mehrere Pioniere angehörten (u.a. Erika Därr, die für Afrikaführer bekannt war, und Rainer Lössl). Unter der gemeinsamen Marke „Reise Know-How“ bündelten sie ihre Titel. Die 1985 offiziell gegründete Verlagsgruppe Reise Know-How mit Sitz in Bielefeld publiziert seitdem Reiseführer „für Individualreisende“.  Die ersten Reise Know-How Handbücher waren schwarz-weiß, im einfachen Layout und oft mit handgezeichneten Karten ausgestattet – doch sie boten genau das Wissen, das Globetrotter suchten. Beispielsweise enthielt „Indien – Handbuch für Reisende“ (1987) detaillierte Tipps zu Busverbindungen im Hinterland, kleine Gasthäuser und Verhaltensregeln in Tempeln – Informationen, die klassische Reiseführer dieser Zeit selten boten. Reise Know-How traf einen Nerv und wuchs rasant: Schon bald deckte das Programm nicht nur Fernziele in Asien, Afrika und Lateinamerika ab, sondern auch europäische Reiseziele und deutsche Regionen. Heute umfasst es über 300 Titel.

Parallel entstand 1979 in Franken der Michael Müller Verlag, gegründet vom gleichnamigen Globetrotter. Michael Müller startete mit individuellen Europareiseführern – der erste Band war ein Portugal-Reiseführer, selbst geschrieben und illustriert. Anders als Reise Know-How (das seinen Schwerpunkt zunächst auf die Ferne legte), fokussierte Michael Müller auf Reisen vor der Haustür: Schon ab 1982 erschienen bei ihm auch Titel zu deutschen Regionen wie der Fränkischen Schweiz. Sein Konzept waren „Reiseführer für Individualisten“, die sich durch detaillierte Recherche, persönliche Tipps und kritische Bewertungen auszeichnen. Die Bücher wenden sich an Reisende, die ihre Tour selbst organisieren möchten – egal ob Städtetrip nach Paris oder Wanderreise in die Toskana. In den 1980ern war Michael Müller mit dieser Philosophie noch ein Underdog neben Platzhirschen wie Baedeker, aber bis heute hat er sich zur Nummer 2 im deutschen Reiseführermarkt entwickelt. (nach der MairDumont-Gruppe). Exemplarisch steht dafür ein Werk wie „Kreta – Michael Müller Reiseführer“, erstmals 1984 erschienen, das abseits der Badeorte auch entlegene Dörfer und Wanderpfade beschreibt und sich über Jahrzehnte zu einem Standardwerk für Griechenland-Individualtouristen entwickelt hat.

Dumont, Reise-Taschenbuch Mecklenburgische Seenplatte, 2015; Foto: if/reisebuch.de

Die großen, traditionellen Verlage reagierten auf den Trend zum individuellen Reisen zunächst zögerlich. Einige lancierten in den 1980ern eigene Reihen: DuMont z.B. die Reihe „Richtig Reisen“, die versuchte, einen Mittelweg zu gehen – mit persönlich gehaltenen Texten und Fotos, aber dennoch für breitere Käuferschichten. Andere, wie Baedeker, blieben ihrer klassischen Linie treu, aktualisierten jedoch die Inhalte (so fanden nun auch mal Jugendherbergen oder Campingplätze Erwähnung). Dennoch galten Reise Know-How und Michael Müller in den 1990ern als die Experten für individuelle Abenteuerreisen und Backpacker-Touren, während Baedeker, Marco Polo & Co. eher für Autourlauber und Pauschaltouristen standen.

In diese Landschaft drängte schließlich ein weltweiter Gigant: Lonely Planet. Die englischsprachigen Lonely-Planet-Guides waren seit den 1970ern die „Bibel“ der Rucksackreisenden weltweit, doch auf Deutsch gab es sie lange nicht. Erst 2006 erschienen die ersten Lonely-Planet-Titel auf Deutsch. MairDumont – die große Reiseverlagsgruppe aus Ostfildern – hatte eine Lizenz erworben und startete mit zwölf Übersetzungen populärer Titel in blau-türkisem Einband. „Die blaue Reisebibel erscheint auf Deutsch“, titelte DER SPIEGEL 2006 und bemerkte: Endlich können auch deutsche Globetrotter den Lonely Planet in ihrer eigenen Sprache lesen. Das sorgte für Aufsehen: Konkurrenzverlage wie Reise Know-How fühlten sich herausgefordert und bezeichneten MairDumonts Vorstoß augenzwinkernd als „ganz schön frech“.  Stephanie Mair-Huydts von MairDumont erklärte offensiv, man wolle mit dem deutschen Lonely Planet Marktführer im Segment der Individualreiseführer werden – ein Segment, das in Deutschland bis dato fragmentiert war. Tatsächlich waren Backpacker-Guides hierzulande noch keine dominante Marke: Während in Großbritannien über die Hälfte aller verkauften Reiseführer für Individualreisende waren, lag der Anteil in Deutschland deutlich niedriger. Die Einführung von Lonely Planet füllte also eine Lücke. Die deutschen Ausgaben blieben nahe am Original – lediglich allgemeine Kapitel (z.B. Visabestimmungen, geschichtlicher Überblick) wurden für deutsche Leser leicht angepasst. Für viele Fernreisende wurde Lonely Planet damit schnell zur bevorzugten Lektüre, ohne jedoch die etablierten deutschen Verlage zu verdrängen. Reise Know-How etwa betonte, man bleibe „optimistisch“ und habe über 230 lieferbare eigene Titel im Programm.

In der Vielfalt lag Stärke: Deutsche Reisende konnten fortan je nach Vorliebe zwischen heimischen Autorenstimmen (Müller, Reise-Know-How) und der globalen Perspektive eines Lonely Planet wählen.

Sprach- und Kulturführer: Reisebegleiter für Verständigung und Verständnis

Mit der wachsenden Reiselust in fremde Länder stieg das Bedürfnis, sich vor Ort verständigen zu können und kulturelle Besonderheiten zu verstehen. Sprach- und Kulturführer wurden daher ein fester Bestandteil des Reiseführermarktes – ein Ausdruck wachsender kultureller Sensibilität der Reisenden. Schon frühe Reiseführer enthielten kleine Sprachlisten (Baedeker hatte oft einen Abschnitt mit nützlichen Redewendungen in der Landessprache). Ab den 1970er Jahren jedoch entstanden eigenständige Sprachführer-Reihen, die gezielt auf typische Reisesituationen zugeschnitten waren. Ein prägendes Beispiel ist die Reihe „Kauderwelsch“ des Reise Know-How Verlags, die seit den 1980ern mittlerweile über 230 Bände für rund 160 Sprachen umfasst. Anders als herkömmliche Sprachlehrbücher vermitteln diese handlichen Hefte sofort anwendbare Wörter und Sätze für den Alltag – mit einem Augenzwinkern, wenn es um regionale Redewendungen geht. Ein Kauderwelsch Band „Hindi Wort für Wort“ etwa lehrt den Leser nicht grammatische Feinheiten, sondern hilfreiche Floskeln, um in Indien höflich Tee zu bestellen oder nach dem Busbahnhof zu fragen.

Parallel dazu legten Verlage verstärkt Wert auf kulturelle Hintergrundinformationen. In Zeiten, da Begriffe wie „sanfter Tourismus“ und interkulturelle Kompetenz aufkamen, wollten Reisende mehr über die Lebensweise und Mentalität der Gastgeberländer erfahren. Reise Know-How startete die Reihe „Kulturschock“, in der landeskundliche Autoren tiefere Einblicke in Geschichte, Gesellschaft und Gepflogenheiten eines Landes geben. Diese Kulturführer – z.B. „Kulturschock Thailand“ – bereiten auf kulturelle Unterschiede vor und zeigen, wie man respektvoll reist. Sie öffnen „die Augen für Eigenheiten und kulturelle Unterschiede“ und tragen dazu bei, Fettnäpfchen zu vermeiden und einen Beitrag zu nachhaltigem, respektvollem Reisen zu leisten. Große Verlage integrieren vergleichbare Informationen in ihre Standardwerke: Baedeker- und DuMont-Führer enthalten ausführliche Kapitel zu Landeskunde, und Lonely Planet streut immer wieder Hinweise ein, wie man als toleranter Weltreisender auftritt. Die Rolle von Sprach- und Kulturführern ist damit nicht zu unterschätzen – sie ergänzen die klassischen Reiseführer und machen das Reiseerlebnis ganzheitlicher. In einer globalisierten Welt, in der Touristen nahezu jeden Winkel der Erde bereisen, sind solche Hilfestellungen für Verständigung und Verständnis enorm wertvoll geworden.

Technologische Entwicklungen: Vom Buchdruck zur digitalen Revolution

Die Produktion und Nutzung von Reiseführern war stets eng mit dem technischen Fortschritt verknüpft. Buchdruck und Kartografie bildeten im 19. Jahrhundert die Grundlage für den Erfolg der ersten Reiseführer. Verbesserte Drucktechniken wie der Stahlstich und später der Offsetdruck ermöglichten detaillierte Kartenbeilagen in Baedeker & Co. So arbeitete Baedeker schon ab den 1870ern mit der renommierten Geographischen Anstalt Wagner & Debes zusammen, die hochpräzise Karten für die Reiseführer lieferte. Diese sorgfältig gefalteten Karten und Pläne – etwa die mehrteiligen Stadtpläne von Berlin in Baedeker 1878 – waren eine technologische Meisterleistung ihrer Zeit und gaben Reisenden ein Werkzeug zur Orientierung an die Hand, lange bevor es GPS gab.

Im 20. Jahrhundert hielten Fotografie und Farbdruck Einzug in die Reiseführer. Zunächst zögerlich (Grieben verwendete schon um 1900 erste Schwarzweiß-Fotos.

Baedeker hingegen erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jh. Farbfotos), doch spätestens in den 1970ern waren Fotos ein Muss. Verlage wie HB-Bildatlas kombinierten großformatige Farbfotografien mit kurzen Texten – ein Stil, der den Zeitgeist illustrierte: man wollte sich inspirieren lassen. Reiseführer entwickelten sich zu visuellen Erlebnissen, was ohne Fortschritte im Vierfarbdruck und günstigeres Papier kaum möglich gewesen wäre.

Ein weiterer technologischer Sprung betraf die Kartenproduktion: In den 1980er Jahren ermöglichten Computer und Geoinformationssysteme eine schnellere, präzisere Kartografie. Verlage wie Mairs Geographischer Verlag (später MairDumont) spezialisierten sich darauf und brachten ab 1950 erstklassige Straßenatlanten (z.B. den Shell-Atlas) und ab 1968 flächendeckende Reisekarten heraus. Diese Karten flossen auch in Reiseführer ein. DuMont und Marco Polo gehörten in den 1990ern zu den ersten, die ihre Bücher mit herausnehmbaren Faltkarten ausstatteten – ein Hybrid aus Buch und Karte, das den Komfort erhöhte.

Um die Jahrtausendwende bahnte sich dann die digitale Transformation an. Zunächst ergänzten CD-ROM-Reiseführer oder digitale Reiseplaner das Buchregal (in den späten 1990ern experimentierten Verlage mit Multimedia-CDs, allerdings mit mäßigem Erfolg). Erst das Internet und vor allem das Smartphone veränderten das Nutzungsverhalten nachhaltig. Plötzlich konnten Reisende unterwegs online Informationen abrufen – von Wikipedia-Artikeln über Sehenswürdigkeiten bis zu aktuellen Restaurant-Bewertungen auf Plattformen wie Tripadvisor. Viele fragten sich: Braucht man überhaupt noch gedruckte Reiseführer?

Die Verlage antworteten mit hybriden Angeboten. Ein Mischmodell aus Print und Digital wurde zur Strategie, die bis heute vorherrscht. MairDumont etwa integrierte QR-Codes und Download-Links in seine Bücher, um z.B. aktuelle Updates oder zusätzliche Fotos online bereitzustellen. Reihen wie Marco Polo bieten ihren Käufern Gratis-Apps an: Man kann die im Buch enthaltenen Stadtpläne via App mit GPS nutzen – eine praktische Verbindung von analogem Inhalt und digitaler Technik.

Der Bergverlag Rother (Spezialist für Wanderführer) entwickelte früh eine Touren-App (seit 2013), die gegen Abo-Zahlung Zugang zu tausenden Wanderrouten und allen digitalen Buchinhalten gibt. Solche Modelle zeigen, wohin die Reise geht: klassische Verlage holen ihre Expertise ins Digitale. Auch der Michael Müller Verlag hat ab 2010 begonnen, ausgewählte Reiseführer als Apps anzubieten und Reise Know-How stellt GPS-Tracks zu Wanderungen zum Download bereit.

Interessanterweise ist die Nachfrage nach rein digitalen Reiseführern bislang verhalten. E-Book-Versionen der klassischen Reiseführer verkaufen sich zwar, bleiben aber ein Nischenprodukt. Viele Leser schätzen offenbar weiterhin das gedruckte Buch – sei es aus Haptik-Gründen oder wegen der Übersichtlichkeit. Verlage beobachten, dass Reisende oft beide Medien parallel nutzen: Zur groben Planung Zuhause greift man gern zum Buch, unterwegs für Detailfragen zum Smartphone. Die Zukunft dürfte daher ein Nebeneinander sein: Printprodukte, die durch digitale Angebote ergänzt werden.

Die Zukunft des Reiseführers

Von den handgebundenen Baedeker-Bänden des 19. Jahrhunderts bis zu den vernetzten Apps von heute haben Reiseführer in Deutschland einen weiten Weg zurückgelegt. Ihre Geschichte ist geprägt von Anpassungsfähigkeit: Sie passten sich neuen Verkehrsmitteln, neuen Reisemoden und neuen Technologien an. Dabei wechselten auch die Zielgruppen: Aus dem elitären Bildungsreisenden von einst wurde der Massentourist der Nachkriegszeit, gefolgt vom abenteuerlustigen Backpacker der 1980er und dem digitalen Nomaden der Gegenwart. Jeder wollte und will auf seine Weise informiert sein – mal ausführlich und kulturell tiefgründig, mal schnell und praktisch.

Das Smartphone als Reiseführer; Bild von sulox32 auf Pixabay

Die Rolle der Verlage bleibt dabei zentral. Immer wieder gab es Innovationsschübe durch neue Akteure: Baedeker als Urbild, Grieben und Woerl als erste Konkurrenten, DuMont und Polyglott für den Nachkriegstourismus, Michael Müller und Reise Know-How für Individualisten, Lonely Planet als Global Player – sie alle bereicherten den Markt mit neuen Konzepten. Heute dominiert in Deutschland die Verlagsgruppe MairDumont, zu der traditionelle Marken wie Baedeker, Marco Polo und DuMont ebenso gehören wie die deutschen Lonely-Planet-Ausgaben. Diese Konzentration zeigt, dass Reiseführer auch ein Geschäft sind, das Skaleneffekte braucht, um wirtschaftlich zu bleiben. Trotzdem haben unabhängige Verlage wie Michael Müller oder Reise Know-How ihre Nischen behauptet, indem sie Qualitätsarbeit liefern und spezifische Bedürfnisse erfüllen.

Was erwartet den Reiseführer in der Zukunft? Prognosen gehen auseinander. Michael Müller selbst meint pessimistisch: „Der klassische Reiseführer ist ein Auslaufmodell“ – perspektivisch ließen sich die aufwendigen Recherchen bei sinkenden Auflagen kaum noch finanzieren. Er sieht die Zukunft wenn überhaupt in digitaler Form. Andere halten dagegen, dass gedruckte Reiseführer weiterhin gefragt bleiben. MairDumont etwa beobachtet auch 2023 noch „starke Nachfrage“ nach Büchern, insbesondere seit dem Wiederanstieg des Tourismus nach der Pandemie. Man erwartet allerdings eine Verschiebung in Richtung digital, also mehr App-Nutzung und Online-Inhalte als Ergänzung, nicht unbedingt als völliger Ersatz. Tatsächlich hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass viele Menschen wieder bewusster reisen und in der Flut der Internetinfos gerne einem kuratierten Reiseführer vertrauen, der von Experten vor Ort recherchiert wurde. Dieses Vertrauensargument ist ein wichtiger Trumpf: Reiseführer liefern geprüfte, verlässliche und kuratierte Inhalte. Gerade in Zeiten von Fake Reviews und überbordenden Online-Tipps wissen Reisende das zu schätzen – das strukturierte Buch kann Orientierung geben, wo das Internet nur unübersichtliche Masse bietet.

Daher ist ein wahrscheinliches Szenario ein Mischmodell: Die Verlage werden Print und Digital kombinieren. Möglich ist, dass Reiseführer zunehmend in modulare Formate übergehen – etwa als Grundbuch plus personalisierbare digitale Updates. Auch neue Technologien könnten Einzug halten: denkbar sind Augmented-Reality-Stadtführer per Smartphone-Kamera oder personalisierte Empfehlungen durch KI, gespeist aus den Daten der Verlagsarchive. Reiseführer der Zukunft könnten zudem noch stärker auf bestimmte Interessen zugeschnitten sein (etwa Nachhaltigkeit: „grüne Reiseführer“ mit Fokus auf umweltverträgliches Reisen, oder spezifische Zielgruppen wie Senioren, die andere Bedürfnisse haben).

Weil die Druckauflagen von Reiseführern in den letzten Jahren deutlich gesunken sind – von teils 50.000 Exemplaren früher (vor 2000) auf heute ca. 3.000 bis maximal 10.000, setzen Verlage zunehmend auf flexible Modelle mit kleineren Erstauflagen. Ergänzt werden diese immer mehr durch Print-on-Demand für Nischentitel oder Backlist-Bücher, um Lagerkosten und Veralterung zu vermeiden. Die Zukunft liegt in hybriden Produktionsstrategien, die wirtschaftliches Risiko minimieren und digitale rasch zu Ergänzungen integrieren.

Eines zeigt die Geschichte deutlich: Solange Menschen reisen, wollen sie Informationen darüber – der Wissensdurst des Reisenden bleibt bestehen. Die Form dieses Wissens mag sich wandeln, doch der Kernauftrag des Reiseführers – Orientierung, Inspiration und Bildung zu liefern – wird bleiben. Insofern haben die roten Baedeker von einst und die Reise-Apps von morgen mehr gemein, als es scheint. Beide sind Ausdruck derselben Neugier auf die Welt. Und so wird die Gattung Reiseführer vermutlich weiterleben, indem sie sich immer neu erfindet – vom bedruckten Papier bis zum digitalen Guide, der vielleicht eines Tages im smarteren Gewand wieder so unersetzlich wird, wie es ein Baedeker im Jahre 1870 war.

Abschließend lässt sich festhalten: Die Geschichte der Reiseführer in Deutschland ist eine Geschichte des Wandels und zugleich der Kontinuität – ein Spiegel unserer Reisekultur, die sich von der Kutsche bis zum Flugzeug, vom Postkartenalbum bis zur Instagram-Story verändert hat, ohne ihre Faszination am Entdecken fremder Orte je zu verlieren. Mit diesem Erbe und der Fähigkeit zur Anpassung blicken viele Reiseführer-Verlage zuversichtlich – wenn auch mit realistischer Vorsicht – in die Zukunft.