Die Poeten der Insel Mallorca

Von Ramon Llull, dem Universalgelehrten und Autor unzähliger von christlicher Mystik geprägter Schriften im Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert, war schon die Rede. Da er seine Werke in katalanischer Sprache verfasste, wurde er zu einer Symbolfigur für die Eigenständigkeit der Region. Daß er ein höfischer Wüstling gewesen sei, bevor er sein Leben in den Dienst Christi stellte, muss aber wohl in den Bereich der Legende verwiesen werden.

Er erfand jedoch als schreibender Troubadour wilde Liebesabenteuer und ein gewaltiges Sündenregister für sich, was dem verheirateten Hofbeamten nur als »Spannung und Kontrast« für sein Werk diente, wie er selbst schrieb. Doch seine Zeit liegt weit zurück, und seine Werke leisten dem heutigen Leser erheblichen Lesewiderstand: »Liebe ist ein sturmgepeitschtes Meer ohne Ufer und Hafen. Der Freund geht unter in diesem Meer, und mit ihm versinken die Qualen, doch seine Vollendung steigt aus der Tiefe.«

Im Unterschied dazu sind einige Gedichte des mallorquinischen Lyrikers Miguel Costa i Llobera (1854-1922) Volksgut geworden. Der aus Pollença stammende promovierte Theologe gehörte der Escola Mallorquina an, einer Bewegung um die Jahrhundertwende, die sich bewusst der Pflege und Weiterentwicklung der mallorquinischen Sprache und Literatur widmete. Bei dem Palmeser Joan Alcover i Maspons (1854-1926) traf sich an Sonntagen die literarische Szene Mallorcas. Santiago Rusiñol und andere kamen zu diesem Zweck eigens mit der Fähre aus Barcelona angereist.

Die Dichter der »Mallorquinischen Schule« schrieben ihre Werke ausschließlich in Mallorquin und verherrlichten die Landschaft der Insel als Ausdruck der Volksseele Mallorcas, was in Alcover i Maspons Cançons de la Serra (1909), den Liedern des westlichen Küstengebirges, der Serra Tramuntana, seinen Höhepunkt fand.

Das berühmteste Gedicht der katalanischen Literatur überhaupt ist El Pi de Formentor von Miguel Costa i Llobera:

Die Pinie von Formentor (1907)

Mich hat ein Baum begeistert! Dem Ölstrauch gleich an Jahren, hüllt er die Kraft des Eichstamms in der Orange Grün; Von ewgen Blättern strotzt er, die seinen Lenz bewahren, und mit den Küstenstürmen, die ihm durchs Laubwerk fahren, mißt er sich riesenkühn/…/

Dem Geiste gleichst du, o Baum, dem schrankenlosen, der von den freien Höhen ins Unermeßne schaut; die Erde scheint ihm spröde, doch Himmelslüfte kosen ihm buhlend durchs Gezweige, und Blitz und Wettertosen sind seinem Ohr vertraut.

Dieses Idealbild einer mallorquinischen Pinie hatte ein reales Vorbild an der idyllischen Cala Murta auf der Ostseite der Halbinsel Formentor. Leider steht sie heute nicht mehr.

Der Ruhm des Dichters ging so weit, daß man ihm oberhalb der Cala Murta, wo er seine bedeutendsten Werke schrieb, ein Denkmal errichtete. Sein Geburtshaus in Pollença hat man in der nach ihm benannten Straße in ein Museum umgewandelt, welches die Erinnerung an Leben und Werk des Poeten wachhalten soll. Außerdem steht ihm zu Ehren ein Monolith im Talaiot de Ses Paisses bei Artà. Costa i Llobera hatte dieser prähistorischen Stätte sein Gedicht La Deixa del Geni Grec gewidmet.

Palma brachte mit Llorenç Villalonga (1897-1980) Mallorcas renommiertesten Romanautor des 20. Jahrhundert hervor. Von Beruf Psychiater und politisch ein Anhänger Francos, gehörte er dem mallorquinischen Landadel an, dessen Verfall er in seinen chronikalischen Romanen satirisch nachzeichnete. Villalonga, der abwechselnd in der Altstadt von Palma hinter der Kathedrale und auf seinem Landgut in Binissalem lebte, hatte seinen größten Erfolg mit »Bearn« (1956), (deutsch: »Das Puppenkabinett des Señor Bearn«, 1991), in dem er den Niedergang der Inselgesellschaft am Beispiel des Lebens eines verarmten Landadligen auf dem fiktiven Gut Bearn bei Santa Maria (nördlich von Palma) aus der Perspektive des Hauskaplans darstellte.

In Anspielung auf George Sands »Winter auf Mallorca« schrieb Villalonga 1975 »Un Verano en Mallorca« (»Ein Sommer auf Mallorca«), in dem er sich – wiederum satirisch – mit der Dekadenz der Aristokratie auseinandersetzte.

Ein ganz anderes Thema schneidet Villalonga in seinem 1974 erschienenen satirisch utopischen Roman »Andrea Víctrix« an. Die Handlung spielt im Jahr 2050 in Palma, das jetzt Turclub heißt und als bedeutendster »Strandmetropole« der Vereinigten Staaten von Europa unter der Kontrolle der Kellnerinnung (!) steht. Die Kellner bilden die neue Aristokratie; man kann verhaftet und sogar hingerichtet werden, wenn man einen von ihnen beleidigt. In Anspielung auf Huxleys »Schöne neue Welt« (1932) entwirft Villalonga das Schreckensszenario einer zukünftigen Gesellschaft, in der die Bürger zum ständigen Konsum gezwungen sind, wenn sie es nicht riskieren wollen, als Feinde des Fortschritts verfolgt zu werden. Dieser leider bislang in deutscher Sprache nicht vorliegende Roman kann gedeutet werden als kritische Reflexion des Autors zum allzu raschen Wandel Mallorcas von einer rückständig ländlichen zu einer von Massentourismus und Konsum geprägten Gesellschaft mit all ihren Auswüchsen.

Aus Andratx im Südwesten der Insel stammt Baltasar Porcel (*1937), der in den letzten Jahren zu einem wichtigen zeitgenössischen Autor der katalanischen Literatur aufstieg und 2001 mit dem angesehenen Ramon Llull Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Um seine Heimatstadt schuf er einen umfangreichen erzählerischen Mythos, der in dem spannenden Roman »Cavalls cap a la Fosca« gipfelte (1975, deutsch: »Galopp in die Finsternis«). Dabei handelt es sich um eine tief in der mallorquinischen Geschichte verwurzelte Erzählung. Sie thematisiert in der anspruchsvollen Erzählweise des magischen Realismus Piraterie, Schmuggel, Inquisition, Gewalt und morbide Familienverhältnisse.

Dieser Erzählhaltung fühlt sich auch Carme Riera (*1948) in ihren zahlreichen Romanen und Kurzgeschichten verpflichtet, von denen einige direkten Bezug zu ihrer Heimat aufweisen. Riera, eine der profiliertesten katalanischen Schriftstellerinnen und vielleicht die renommierteste und bislang erfolgreichste Autorin Mallorcas, wuchs in einem der nach außen eher unscheinbaren, dafür drinnen umso prächtigeren Palacios in Palma’s Altstadt auf und verbrachte ihre Jugend abwechselnd dort und im Sommerhaus ihres Onkels in Deià. Ihre besten Erzählungen findet man im Sammelband »Liebe ist kein Gesellschaftsspiel« (1996); ihr erfolgreichster Roman mit Mallorca-Bezug trägt den Titel »Florentinischer Frühling« (1995).

Ein Meisterwerk historischer Erzählkunst ist ihr jüngster – im Jahr 2000 auch auf Deutsch erschienener – Roman »Ins fernste Blau«, der im Mallorca des späten 17. Jahrhundert spielt. Riera entwirft ein schaurig-schönes Szenario um die grausame Judenverfolgung durch die Inquisition, ein düsteres Kapitel auch der mallorquinischen Geschichte. Die Schönheit (neben dem Schaurigen) liegt sowohl in der bildhaften, fast barocken Sprache der Autorin als auch im packenden Plot um die zum Teil historisch belegbaren Ereignisse. Für »Ins fernste Blau« erhielt Riera den bedeutendsten spanischen Literaturpreis, den Premio Nacional, der damit zum ersten Mal für ein auf Katalán (i.e. mallorquinisch) geschriebenes Buch vergeben wurde.

Bereits 1967 geschrieben, aber erst 2001 auf Deutsch erschien der bislang bedeutendste und mehrfach prämierte Roman der 1941 in Santanyi, im Südosten Mallorcas, geborenen Autorin Antonia Vicens, »39 Grad im Schatten«. Wer einmal das authentische Gegenstück zu den vielen seichten Hymnen auf das »Paradies im Mittelmeer« kennenlernen möchte, dem sei dies Werk ans Herz gelegt. Es spielt im beginnenden Fremdenverkehrsmilieu Mallorcas der 1960er- Jahre und wird erzählt aus der Perspektive der Verkäuferin Miquela. Sie dient als Reflektorfigur für eine desillusionierte Selbstbespiegelung mallorquinischer Verhältnisse im Übergang von einer ländlich rückständigen, streng katholischen Gesellschaft zum modernen, skrupellosen Kapitalismus der Tourismusindustrie. Für die hier geschilderten Alltags-Schicksale im vermeintlichen Paradies ist »bedrückend » ein zu mildes Wort.

In den letzten Jahren ist eine deutliche Zurückhaltung bei der Neuveröffentlichung von Mallorca-Literatur zu erkennen. Nur wenige Werke schaffen es, sich einen weiteren Leserkreis zu erschließen. Hierzu gehören vor allem die fünf Mallorca-Bände von Peter Kerr, des schottischen Bestsellerautors, der mit Familie drei Jahre lang eine kleine Finca im Sóller-Tal betrieben hat. Von Licht und Schatten dieser Erfahrung erzählen seine augenzwinkernden Mallorca-Memoiren, die unter den Titeln »Im Tal der Orangen«, »Manyana, Manyana« und »Viva Mallorca« zwischen 2000 und 2006 in deutscher Übersetzung erschienen.

»A Basketful of Snowflakes« und das Abschlusswerk »From Paella to Porridge« warten noch auf ihre deutsche Veröffentlichung. Wer typisch britischen Humor schätzt und einen Faible hat für die Marotten der Mallorquiner, der findet in Kerrs Chroniken eine kurzweilige und zuweilen sogar erhellende Lektüre. Dass sich dabei etliches wiederholt, stört nicht besonders, trägt aber dazu bei, dass Klischees eher bestätigt als aufgebrochen werden. Als Fazit erschrickt dann ein wenig die Tatsache, dass drei Jahre Mallorca, drei Jahre Traum vom sonnigen Süden, offensichtlich genug waren, die Kerrs wieder mit Sack und Pack in ihre kalte und feuchte schottische Heimat zurück zu schicken…

Hohe Literatur auf Augenhöhe mit Carme Riera liefert die mallorquinische Literaturprofessorin Maria de la Pau Janer mit ihrem Epos »Im Garten der Finca« aus dem Jahre 2002 (deutsche Ausgabe 2004). Ein »Frauenroman«, der aus weiblicher Perspektive drei Generationen einer mysteriösen mallorquinischen Familie umfasst. Er ist voll schwüler Sinnlichkeit und gepflegter Langeweile, aber brillant geschrieben und kongenial übersetzt.

Einen Mallorca-Schmöker für Freunde historischer Romane gibt es von Eric Maron seit 2005 unter dem Titel »Die Rebellinnen von Mallorca«, der seine Leser(innen) ins mallorquinische Königreich des 14. Jahrhunderts entführt. Abenteuer vor historischer Kulisse mit viel katalanischem Lokalkolorit, aber keine ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit der Geschichte Mallorcas.