"Der Fluch" von Nay Win Myint

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Wenn Tante Mai Gyote kam, hatte sie immer eine Dose für Teesalat dabei. Manchmal waren eingelegte Teeblätter darin, manchmal nicht. Was sie immer dabeihatte, war die Dose. Was sie nie dabeihatte, war Öl. Nachdem sie ziemlich lange geredet hatten, sagte Tante Mai Gyote dann immer: „Na komm, mach mir mal die Teeblätter mit Öl an … dein Erdnussöl duftet so gut … du kaufst es bei Tint Hsone, nicht wahr?“, und gab Mutter ihre Dose. Mutter musste zwar manchmal ohne Öl kochen, aber der Teeblättersalat für Tante Mai Gyote schwamm immer in gutem Öl. Danach aß Tante Mai Gyote Teeblättersalat, während sie schwatzte und prahlte, was das Zeug hielt. Mutter und meine Tante mussten still dabei sitzen. Gut, dass sie schon morgens mehr für das Abendessen gekocht hatten.
Und Zeit, die neu gepflanzten Jasminbüsche zu gießen, hatten sie auch nicht, ebenso mussten die Tomatenpflanzen dürsten. Und sie konnten nicht zum Brunnen gehen, um Wasser zum Duschen zu holen. Erst abends, wenn es dunkel wurde und Tante Mai Gyote nach Hause ging, hatten sie ihre Freiheit wieder.

Tante Mai Gyote wohnte in Le’panbin Chaung, einer Gruppe von Hütten in einiger Entfernung von unserem Haus. Die Siedlung wurde so genannt, weil es dort einen großen, alten Le’pan Baum gab. Die Tante wurde im Dorf bei allen möglichen Namen gerufen – Tante Gyote, Mutter Gyote, Mutter Mai Gyote, Oma Gyote, Oma Mai Gyote … Wir nannten sie so, wie auch unsere Mutter es tat: Tante Mai Gyote. In der Siedlung war ihre Hütte die schäbigste. Durch das Dach aus trockenem Gras sah man Mond und Sterne. Die Seitenwände aus Bambusmatten waren geflickt und löchrig. Die ganze Hütte stand ziemlich schief. Auf der angebauten Veranda aus grobem Bambus standen zwei Wassergefäße. Das war’s. Aus der Entfernung sah man nur diese beiden großen Gefäße. In Nächten, in denen der Mond schien, saß sie oft dort und qualmte ihre Zigarren.

Morgens zog sie dann wieder durchs Dorf. Wenn die Novizen von ihrer Almosenrunde ins Kloster zurückkehrten, kam auch sie mit ein, zwei Tellern Essen heim, das sie sich irgendwo erbettelt hatte. Nein, aus ihrer Hütte brauchte kein Rauch aufzusteigen. Kleidung zum Wechseln hatte sie auch nicht. Ihren schwarzgeblümten Htamein und ihre weiße Bluse mit Knopfleiste im obermyanmarischen Stil und mit langen Ärmeln trug sie immer, ohne sie jemals auszuziehen. Dass sie geduscht hätte, kam auch nicht vor. Ich habe es jedenfalls nie gesehen. Riesig groß ragte sie zum Himmel auf und dürr war sie, dass man direkt von Haut und Knochen sprechen konnte. In ihrem Gesicht konkurrierten die Runzeln und Falten mit den Pockennarben, als ob das ganze Gesicht voller Krähenfüße wäre. Ihr schmales Gesicht und die hohe Stirn passten überhaupt nicht zueinander. Man hätte meinen können, dass sie auf ihre Stirn eine Zeitung geklebt hätte. Hinter ihre weichen Ohren hatte sie immer zwei dicke, steife Maisblattzigarren gesteckt. Ihre weißen, dünnen Haare hatte sie oben auf ihrem Kopf zu einem Dutt in der Größe einer Betelnuss zusammengedreht.
Die Menschen im Dorf waren immer in Sorge, dass sie früh am Morgen zu ihnen kommen könnte. Die Händler im Markt fürchteten ebenfalls, dass sie zu ihnen kommen und Unglück bringen würde, noch bevor sie das erste Geschäft des Tages gemacht hatten. Und die Le’pe’yei-hsains und die Verkäufer von Gebäck und Frittiertem atmeten erleichtert auf, wenn sie an ihnen vorbei war. Sie aber wusste das nicht und war überzeugt, dass das Dorf sie liebte. Sie brauchte nicht selbst zu kochen. Sie brauchte auch nicht selbst eine Tasse Tee oder etwas Gebäck zum Essen zu kaufen. Sie brauchte nur ins Dorf zu gehen und darum zu bitten und konnte sicher sein, das Gewünschte zu bekommen.

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