"Der Notfall" von Gyo Zaw

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Htet Htet sah den fortwährend mit dem Kopf schüttelnden Lehrer beschämt an und stand auf. Die ganze Zeit hatte sie wechselweise mit Sätzen wie „Gerade das habe ich nicht gelesen, Herr Lehrer“, „Oh, Entschuldigung, das habe ich vergessen“ oder „Ich komme nicht mehr darauf, Herr Lehrer“ antworten müssen, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Dieses Mal bist du mit Sicherheit durchgefallen.“ Htet Htets bleiches Gesicht wurde rot vor Scham. „Bald ist die große Prüfung. Lernst du denn gar nicht, Mädchen?“
Diese letzte Frage des Lehrers hallte in ihren Ohren nach, bis sie den Raum verlassen hatte. Sie wand ihr tränenfeuchtes Taschentuch um ihre Hand und ging in Richtung des Autos der Familie, das sie abholte. „He du! Alles OK?“ Als sie Mi Tus Frage hörte, konnte sie nicht mehr an sich halten, und die Tränen flossen in Strömen. „He, das ist ja eine tolle Vorstellung, wie Moe Moe Myint Aung, die letztes Jahr den Filmpreis gekriegt hat“.
„Quatsch! Die heult doch bloß kräftig, damit die Prüfer beide Augen zudrücken und sie bestehen lassen“, hörte sie, wie einige andere Studenten sich über sie lustig machten. Htet Htet blieb mitten im Schritt stehen und sah herüber. „Oh… Mama …ist mir schwindlig…“
Htet Htet wusste nicht, wie ihr geschah. Ihr wurde schwindlig und schwarz vor Augen. Die Umrisse der Studenten und Studentinnen verschwammen vor ihren Augen. Die Medizinische Hochschule fing an sich zu drehen, stand plötzlich Kopf und begann wegzuschwimmen. „He, Htet Htet“ hörte sie zuletzt noch Mi Tus schrille Stimme.

Auf der Station lief der junge Arzt im Praktikum geschäftig hin und her. An normalen Tagen gab es nicht so viel Arbeit. Heute aber nahmen sie neue Patienten auf. Die unterschiedlichsten Arten von Patienten mit den unterschiedlichsten Krankheiten kamen einer nach dem anderen neu auf die Station. Es wollte gar kein Ende mehr nehmen.
Bei jedem Patienten, der neu auf der Station ankam, musste man zunächst die Krankheitsgeschichte erfragen und notieren, dann die üblichen Untersuchungen durchführen und den Befund in dem Formular eintragen. Dies legte man dann dem Assistenzarzt vor und notierte seine Therapieanweisungen. Dann musste er diese wiederum den Krankenschwestern erklären und den Patienten notwendige Spritzen geben. So war er die ganze Zeit über reichlich beschäftigt. Noch anstrengender wurde es, wenn zwischendurch Notfälle eingeliefert wurden. Dann musste er den Longyi kürzer binden, sich die Ärmel des Arztkittels hochkrempeln und laufen, bis er schweißgebadet war. Darum hoffte er inständig, dass keine Notfälle kommen würden. Und weil dieser Wunsch schon den ganzen Vormittag über in Erfüllung gegangen war, freute er sich. Nachmittags aber kam mit einer Notfallpatientin namens Htay Htay plötzlich der Stress über ihn und den Assistenzarzt. Während sie auf dem Bau gearbeitet hatte, war ihr schwindlig geworden, sie hatte Blut gespuckt und war dann ohnmächtig umgefallen, hörte er. Außerdem war sie noch im dritten Monat schwanger. Als sie auf der Station ankam, war sie immer noch nicht wieder bei Bewusstsein.
Er musste sofort alle bei solchen Notfällen üblichen Untersuchungen durchführen, Die Blutbank informieren, falls eine Bluttransfusion nötig wäre. Noch mal Glück gehabt. Nachdem er ihr eine Spritze gegeben hatte, kam sie wieder zu Bewusstsein. Jetzt konnte er sie untersuchen und über ihr Befinden befragen. Curry aus geronnenem Ziegenblut hatte sie gegessen, Kräutermedizin genommen und Tamarindensaft getrunken. Das, was sie erbrochen hatte, war also gar nicht unbedingt ihr Blut. Auch ihr Baby schien unverletzt zu sein.

Auffällig blutleer, bleich und kraftlos wirkte sie aber. Um ein Blutbild zu erhalten, nahm er ihr etwas Blut ab und gab Anweisungen, es am nächsten Tag ins Labor zu bringen. Vorläufig diagnostizierte er Blutarmut. Kaum dass Htay Htay ihr Bewusstsein wieder gewonnen hatte, ging der Stress weiter, als eine Medizinstudentin namens Htet Htet eingeliefert wurde.
Sie hatte eine Prüfung abgelegt, war aus dem Prüfungsraum herausgekommen und ohnmächtig geworden. Auch sie war noch nicht wieder bei Bewusstsein, als sie auf der Station ankam. Die Dozenten und Studenten der Medizin, die sie begleiteten, waren in Aufregung und brachten die Ärzte der Station noch mehr ins Schwitzen. Nachdem er sie auf ein Bett gelegt und ihr eine Spritze gegeben hatte, kam sie wieder zu Bewusstsein.
Als er sie befragte und untersuchte, fand er heraus, dass sie ohnmächtig geworden war, weil einige Blutbestandteile nicht in ausreichender Menge vorhanden waren. Die Studentin war blass und dünn wie eine frisch gehäutete Schabe. Die Prüfungen waren noch nicht abgeschlossen. Offensichtlich hatte sie zu viel gelernt, ohne genug zu essen und zu schlafen. Bei Studentinnen kam das vor. Um auch von ihr ein Blutbild zu erhalten, nahm er ihr Blut ab und gab die Anweisung, es morgen ans Labor zu schicken. Tatsächlich wäre er am liebsten weggelaufen, als Htet Htet und Htay Htay eingeliefert wurden. Aber er hatte noch einmal Glück: Für heute blieb es bei diesen beiden Notfällen.

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