"Der Notfall" von Gyo Zaw
Es stimmt, ein Krankenhaus ist ein Haus, in dem sich alles Unschöne und Furchtbare zu versammeln pflegt. Aber man kann in diesem Haus auch die Bilder der Spuren betrachten, die der Lauf der Welt an den Menschen zurücklässt. Seit er als Arzt im Praktikum Dienst tat, interessierte er sich für Menschen. Mit der Zeit konnte er gut erkennen, ob ein Mensch wohlhabend oder mittellos, beliebt oder eher einsam war. Und er war dann gespannt darauf, was er noch herausfinden konnte, um das Bild, das er sich von jemandem gemacht hatte, zu vervollständigen.
Am interessantesten war für ihn die Besuchszeit, wenn das Krankenhaus für Gäste der Patienten geöffnet wurde. Die Besucher – farblos oder leuchtend bunt – und ihre Stimmen – leise flüsternd oder laut und durchdringend – konnte er dann gut und ausgiebig studieren.
Jetzt bewegte er sich mit einem Stapel Laborergebnissen in der Hand zwischen all diesen farblosen und leuchtenden, leise flüsternden und durchdringend lauten Menschen.
Nachmittags, wenn Besuchszeit war, kamen auch die Ergebnisse aus dem Labor, und er ging damit zu den Patienten, um sie in die am Fußende ihres Bettes befestigten Mappen zu legen. Wenn abends und am nächsten Morgen die Ärzte zur Visite kamen, war in den Mappen bereits alles enthalten, was sie wissen mussten.
Die Laborergebnisse der bleichen Medizinstudentin in Bett eins boten Anlass zur Freude. Ihr Blutwert war nur hinter dem Komma ein wenig zu niedrig. Also war sie nicht ernsthaft krank und musste nur gut essen und sich ausruhen. Als er an ihrem umlagerten Bett ankam, fragten die Besucher eifrig: „Ist sie denn sehr anämisch, Herr Doktor?“. – „Oh, nur within normal limits“, antwortete er und drückte ihnen das Blatt mit den Ergebnissen in die Hand.
„Wirklich? Und ich hatte schon meinen Oberarm freigelegt, um ihr Blut zu spenden …“ scherzte einer der Studenten, der am Kopfende des Bettes saß. Ein Gelächter brach unter den anderen Studenten aus. Htet Htet kniff ihn in den Arm. Die allgemeine Fröhlichkeit übertrug sich auch auf sein Gesicht und hielt sich dort noch bei den nächsten Patienten. Bett für Bett ging er weiter. An Bett dreizehn dann Htay Htay. Oh, richtig, die schwangere Bauarbeiterin. Er zog das Blatt mit ihren Blutwerten heraus. Sie lagen weit unterhalb des zulässigen Minimums. Keine Ahnung, was für Behandlung der Oberarzt morgen bei seiner Visite anordnen würde. „Herr Doktor, ich hätte da eine Frage…“ Er blickte von der Mappe auf, in die er gerade das Blatt mit den Laborergebnissen hineingelegt hatte, und sah die kleine Bauarbeiterin an.„Ja, frag nur“, forderte er sie freundlich auf.„Oh, eigentlich ja nichts Wichtiges“, begann sie schüchtern.„Annami oder Annimi oder so… ist das eine schlimme Krankheit?“Er war erstaunt. Die Patientin wusste also, was sie hatte. Ob sie sich deshalb sorgte? Am besten, er würde ihr alles genau erklären.„Anämie heißt, das. Warum fragst du?“„Och, na ja, die kleine Medizinstudentin von Bett eins… ich habe zufällig gehört, dass sie diese Krankheit hat. Und jetzt sitzen die ganze Zeit so viele Leute um sie herum. Die kann einem richtig Leid tun, nicht wahr Herr Doktor. Die ist dann wohl wirklich, was man so einen Notfall nennt, oder?“Wieder war er verblüfft – so sehr, dass er nicht mehr wusste, was er noch sagen sollte:„Äh, also, ein Notfall, das ist …“
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