"Die Nacht im Kanal" von Zeyya Linn

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„Heißt das denn, dass man gar nichts für die arme Kuh machen kann?“, fragte er zaghaft. Vater war sehr klug, klüger als Mutter. Wenn Vater ihn mit aufgerissenen Augen fragen würde: „Bist du verrückt?“, müsste er sich schämen. Aber in seiner Brust und im Bauch fühlte er etwas wie Schmerz. Die Kuh, die in den Abflusskanal gefallen war, tat ihm Leid. Er wünschte, es gäbe die gute Fee aus den Märchen wirklich. Vater schüttelte den Kopf. Es sah nicht so aus, als ob er noch weiterreden wollte.
„Erklär es doch so, dass der Junge es versteht.“, sagte Mutter in besänftigendem Ton zu Vater. Vater leerte seinen Teller und sagte: „Das versteht er doch sowieso nicht.“ Dann stand er vom Tisch auf und ging in die Küche. Er hörte dem Plätschern des Wassers und dem Geräusch des Händewaschens zu, und er starrte gedankenverloren vor sich hin. Als er in der Schule war, war eine Kuh von irgendwoher irgendwie in den Kanal gefallen. Seit er aus der Schule zurück war, hörte man das langgezogene Blöken der Kuh aus dem großen Abflusskanal, der entlang der Hauptstraße vor dem Haus verlief. Die Leute auf der Straße warfen einen Blick in den Kanal hinunter und gingen weiter. Eine Gruppe Männer war gekommen, um es sich anzusehen, und war dann wieder fortgegangen.
Wie sehr er auch versucht hatte, von der Veranda vor dem Haus aus einen Blick zu erhaschen, er hatte nur den Rand des Kanals sehen können. Von dort hatte man immer wieder das Blöken aus dem Kanal hören können. Er hatte hingehen und nachsehenwollen, aber er wusste, das konnte gefährlich sein. Einmal war ein Junge seines Alters zu dicht rangegangen und hineingefallen, hatte sich am Kreuz schwer verletzt und einen Schädelbruch zugezogen.

Er wollte keine Blutstropfen sehen. Er konnte kein Blut sehen. Dass es ein bisschen wehtat, wenn man sich unversehens verletzt hatte, war ja nicht so schlimm. Aber wenn er Blut sah, musste er immer weinen.  Und wenn er in Vaters Gegenwart weinte, dann wurde er immerangeschrien: „Was bist du denn für einer? Bist du ein Mann oder ein Mädchen? Soll ich dir die Eier abschneiden? Ich erschieße dich!“
Wenn andere sich etwas getan hatten, litt er immer mit. Einmal, als sich Vater an der Hand geschnitten und geblutet hatte, da hatte er weinen müssen. Vater hatte die Wunde mit dem Finger zugedrückt und ihn angeschrien.
„Wag es nicht, vor meinen Augen zu heulen!Raus mit dir!“, hatte er ihn wütend hinausgejagt. Und er hatte schnell die Tränen abgewischt und schluchzend in seinem Zimmer weiter geweint,ganz leise, so dass Vater es nicht hören konnte.
„Sohn, iss schnell auf. Woran denkst du denn?“ Er sah die Mutter an. Vater war jetzt vorne im Haus wahrscheinlich mit seinen Akten beschäftigt. Oder vielleicht las er auch ein Buch. Mutter räumte schon die Schüsseln mit den Essensresten ab.
„Ich habe keinen Hunger mehr“, sagte er leise, damit Vater es nicht hörte.
„Iss doch! Oder soll ich dich noch füttern? Los, ich habe extra gekocht, was du so gerne magst. Nun iss schon.“
Mutter schob ihm einen Happen Reis mit etwas Hühnerfleisch in den Mund. Er horchte angespannt. Es war kein Muhen zu hören. Vielleicht war sie auch schon tot? Noch einen Happen. Während er das Essen langsam kaute und hinunterschluckte, wollten ihm die Tränen kommen. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er schüttelte den Kopf.

 

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