"Die Nacht im Kanal" von Zeyya Linn

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Als er mit den Mathe-Aufgaben fertig war und sie Mutter zum Kontrollieren gab, waren vier von zehn falsch. Mutter ließ ihn nachrechnen. Bei viermal acht hatte er dreißig rausbekommen. Sie ließ ihn noch einmal das Ein-mal-Vier aufsagen. Normalerweise konnte er das auswendig. Heute ging es nur stockend. Während er überlegte, drang die Stimme aus dem Vorderzimmer: „He! Soll ich erst hinkommen?“
Wenn Vater käme, wäre seine Hand im Spiel. Vielleicht auch der Rohrstock. Mutter gab ihm ein Warnzeichen mit dem Kinn. Da riss er sich zusammen und sagte die Reihe weiter auf. Ein Stein fiel in den tiefen Kanal.
„Muuuhh“.
Heute Nacht würde er gern bei Mutter schlafen. Vater war lange nicht auf Dienstreise gewesen. Wenn Vater nicht da war, konnte er immer bei der Mutter schlafen. Mutter erzählte ihm dann Geschichten. Er wollte beim Einschlafen die Mutter umarmen und mit den Beinen umklammern. Nicht etwa, weil er Angst hätte; er traute sich allein zu schlafen. Mutter bereitete ihm immer das Bett, steckte die Enden des Moskitonetzes unter die Matratze, küsste ihn sanft auf die Stirn und sagte: „Jetzt schlaf schon.“ Dann machte sie das Licht aus, und er schlief ein.
Vater würde schimpfen. „Du Nichtsnutz, du Memme! Ich werd’ihn dir abschneiden!“, würde er brüllen. Er wollte kein Mädchen sein. Er wollte keine Memme sein. Er wollte ein tapferer, echter Mann sein. Wenn er einmal groß wäre, würde er Mutter nehmen und mit ihr weit weg gehen. Wenn dann Vater von seiner Reise zurückkäme, würde er weder ihn noch Mutter zu Hause vorfinden. In einem kleinen grünen Wäldchen würden er und Mutter sich ein kleines Häuschen bauen. „Für Papa kein Zutritt“ würde er an den Eingang schreiben.

„Muuuhh“.
Er sagte leise zur Mutter, so dass Vater es nicht hören konnte: „Mama, ich bin müde. Kommst du noch einen Moment zu mir ins Bett?“
„Du hast ja noch nicht einmal die Hausaufgaben fertig. Mach’ die jetzt erst zu Ende.“
„Und wenn ich fertig bin, kommst du dann?“
„Ja, aber jetzt los, weiter!“
„Die ganze Nacht?“
„Dann wird Papa aber schimpfen.“
„Ach, Papa…“
Mutter sah ihn lächelnd an. Sie hielt beim Nähen der aufgerissenen Achselnaht von Vaters Hemd einen Augenblick inne. Vaters Hemd war riesengroß.
„Wenn du die Prüfung bestehst, wird Papa dir sicher kaufen, was du dir wünschst.“
„Und wenn ich Klassenbester werde?“
„Dann würden Papa und ich uns natürlich sehr freuen. Dann kaufen wir dir Spielzeug und Anziehsachen. Papa und ich, wir wünschen uns beide, dass du ein guter Schüler bist.“
Er überlegte einen Moment. Dann sagte er mit ernster Stimmeganz leise: „Ich will kein guter Schüler sein, Mama.“
„Was…? Warum denn nicht?“
„Ich will nicht Bücher lesen so wie Papa.“
„Willst du denn immer nur spielen?“
„Genau. Wenn ich einmal erwachsen bin, werde ich ganz stark sein, nicht wahr, Mama?“
„Klar.“
„Kuck mal, ich habe jetzt schon Muskeln“, sagte er und spannte seinen dünnen, Oberarm an.
„Ich werde sogar mehr Muskeln haben als Papa.“
„Na klar.“

 

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