"Hoffnungswolken" von Myu Myu

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In Wirklichkeit jedoch hatte er sein Alter für ein bisschen Reis aus seiner Erinnerung gestrichen. Nicht um sich mit den Federn der Jugendlichkeit zu schmücken, sondern des nackten Überlebens wegen war sein Alter schon lange in Vergessenheit geraten. Der alte Mann war recht groß und stattlich. Wenn er vor einigen Jahren erzählte, er sei sechzig, glaubten die Leute ihm einfach und ließen ihn auch schwere Arbeiten machen.
Seit einiger Zeit aber war er merklich schneller erschöpft und konnte nur weiterarbeiten, wenn er sich ausgeruht hatte. Genügend Kraft, um Unkraut zu jäten oder um den Boden zu hacken, hatte er jedoch noch. Weil er sein Leben lang schwer gearbeitet hatte, schreckte er nicht so schnell vor einer Arbeit zurück. Vor diesem Job hatte er bei einem Reichen den Garten gepflegt. Der gab seiner Frau und ihm nicht nur Obdach, sondern auch ein Beet im Garten zum Anbau von Gemüse für den Eigenbedarf und für den Verkauf. Der Reiche selbst war freundlich, sein Sohn aber ein Ärgernis.
Der alte Mann lag rücklings auf seiner alterschwachen Bambus-Pritsche, verschränkte die Hände hinter seinen Kopf und sah in den weiten Himmel. Die Wolkenfetzen verflochten sich miteinander zu Wolkenbändern in immer neuen Formen. Diese Wolkenbänder zogen schnell über den blau-schwarzen weiten Himmel.
„Der Himmel gleicht dem menschlichen Dasein und die Wolkenbänder den sich ineinander verschränkenden Abschnitten meines Lebens“, kam es ihm in den Sinn.
„Ich musste doch meine Pflicht erfüllen. Wenn sein Sohn sich mit seinen Freunden betrinkt, musste ich das doch meinem Arbeitgeber sagen. So habe ich dann die Wut seines Sohnes zu spüren bekommen. Einem Gärtner stünde es nicht zu, einen Sohn aus gutem Hause anzuschwärzen.

Kein Wunder, dass der Sohn seitdem Groll gegen mich hegte. Aber die Arbeit war nicht so anstrengend. Und wo ich doch das ganze Leben harte Arbeit hatte machen müssen, konnte ich diesen Job nicht einfach so hinwerfen. Oh, ich muss doch aufmerksam und ehrerbietig sein, muss loyal sein. So loyal, dass ich die Wahrheit zu sagen wage. Ich war nicht im Unrecht. Da bin ich mir ganz sicher. Nein, falsch gemacht habe ich nichts. Ja, aber als der Vater dann gestorben war, hat mich der Sohn dann natürlich gleich gefeuert. Da ich meinen Job als Gärtner verloren hatte, musste ich wieder zum Hafen gehen und mich als Kuli verdingen. Weil nun meine arme Frau mit meinem bisschen Verdienst nichts mehr zu beißen hatte…“
„Vater, du bekommst nur wieder Brustbeklemmung. Es ist kalt geworden. Komm doch rein!“, sprach die kleine, dürre Gestalt zu ihm, während sie sich am Türrahmen festhielt und auf ihn hinab schaute. Die alte Dame kann wohl auch nicht schlafen, dachte er. Durch Dick und Dünn waren sie gemeinsam gegangen, hatten alle Hürden des Lebens zusammen gemeistert, und nun schritten sie auf die Achtzig zu. In diesem Leben konnten sie nicht zur Ruhe kommen.
„Ja, kalt ist es. Noch einen Moment, dann komme ich gleich schlafen. Geh nur, geh! Schlaf gut, meine Liebe!“
Ein Weilchen beobachtete ihn die fragile Gestalt noch. Weil das Gesicht der alten Dame im Dunkeln versteckt war, ließ sich das nicht so genau ausmachen. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass sie wohl genau wie er mit matten Augen vor sich hin starrte.

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