Er durchdringt sowohl die Politik als auch die Gesellschaft, die Kunst, die Erziehung und, das Wichtigste von allem, das tägliche Leben der Burmesen. Schätzungsweise 80 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes sind praktizierende Buddhisten, und bei den eingeborenen Burmanen, Shan und Mon liegt der Anteil gar bei 95 Prozent.
In Myanmar, Sri Lanka, Thailand, Laos und Kambodscha folgen die Buddhisten zumeist den Lehren der Theravada-Schule („Doktrin der Älteren”), während der Mahayana-Buddhismus („Großes Fahrzeug”) seine Anhänger hauptsächlich in Tibet, der Mongolei, China, Korea, Vietnam und Japan hat. Der Theravada- Buddhismus gilt als die orthodoxe, strengere, ja fast asketische Form, deren Ansprüche schwerer zu erfüllen sind. Um die Erleuchtung des Nirvana zu erreichen, müssen die Gläubigen die Verantwortung für all ihre Taten übernehmen und dieses Ziel mit unermüdlichem Fleiß und Opferbereitschaft anstreben, diszipliniert den strengen Regeln folgend, die einen klaren, aber schmalen Weg weisen. Die Theravada-Schule legt großen Wert auf das individuelle Verhalten, und durch den Dienst an anderen steigen die Aussichten, das Nirvana zu erreichen.
Hier ist nicht der Ort für eine umfassende Darstellung der Ursprünge und Eigentümlichkeiten des Buddhismus, die anderswo nachzulesen ist. Aber dass es einer Grundkenntnis dieser Religion bedarf, wenn man die Burmesen, ihre Gesellschaft und Kultur auch nur annähernd verstehen will, ist ganz sicher klar. Die folgende Zusammenfassung beschreibt einige wesentliche Aspekte des Buddhismus, um auf diesem Wege Einblick in das burmesische Ethos zu gewähren.
Der Buddhismus hat keine zentrale Figur, keinen „Gott”, um den sich die Religion als allmächtiges Wesen dreht. Die historische Person, die wir als „Buddha” kennen, lebte im sechsten Jahrhundert v. Chr. unter dem Namen Siddharta Gautama in Nepal und Indien. Obgleich von herrschaftlicher Abkunft, verheiratet und Vater eines Sohnes, entsagte er seiner weltlichen Stellung und seinen Besitzungen, um das Leben eines Wandermönchs zu führen. Während er so durch die Lande zog, suchte er den Rat vieler Lehrer, um eine Antwort auf die zahllosen Fragen über die Bedeutung von Leben, Leiden und Tod zu finden. Nach einer Periode äußerster Enthaltsamkeit entschied er sich für einen Weg der Mäßigung – den „mittleren Weg” zwischen Selbsterhaltung und Askese. Unter einem Banyanbaum in Meditation versunken, erreichte er schließlich einen Zustand tiefer Erkenntnis oder Erleuchtung. Er verbrachte den Rest seines Lebens auf der Wanderschaft, unermüdlich die Inhalte seiner Philosophie und Ethik predigend. Die heiligen Texte des Buddhismus, ursprünglich mündlich überliefert, wurden erst lange nach dem Tod des Buddha aufgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt, wobei die Sammlung des Palikanons die älteste und vollständigste ist. Um das Jahr 400 n. Chr. gelangten die Pali-Schriften (Pali ist eine Sanskritsprache) nach Burma.
Dem Buddha zufolge sind alle Formen des Lebens – ob Menschen, Tiere oder Pflanzen – Teil eines immerwährenden Zyklus von samsara, das heißt von Dasein und Wiedergeburt. Leben ist Leiden, und die wenigen Momente des Glücks sind eher wie Illusionen.
Am Ursprung allen Leidens stehen unsere Unwissenheit und unsere Begierden – das „Haften” an der sinnlichen Welt, der Verwandtschaft, an weltlichen Freuden, Karriere und Besitz, der Gesellschaft im allgemeinen und an uns selbst. Je stärker das Festhalten, um so heftiger das Leiden. Die einzige Möglichkeit, diesen endlosen Kreislauf von Leiden und Wiedergeburt zu überwinden, ist die strikte Befolgung des dharma, der Lehren des Buddha. Der Kanon sagt, dass alle Dinge Teil des Ganzen sind, außerhalb dessen kein Leben existiert; darum kann es so etwas wie eine individuelle Seele nicht geben. Der Gläubige entwickelt ein Bewusssein, das geistige Erkenntnis umfasst, und wird schließlich das letzte Ziel der wahren Erleuchtung erreichen – die All-Einheit des Nirvana. Nirvana ist nicht das gleiche wie christliche Erlösung. Es ist weder Himmel noch Verdammnis, sondern die höchste Qualität der Existenz – vollständiges Erlöschen der weltlichen Begierden und Befreitsein vom endlosen Leiden.
Bei der Reinkarnation bestimmt die Summe des Karma, des Bewusstseins, der Verdienste und der Fehler des Einzelnen seine nächste Existenz. Die Form der Wiedergeburt hängt von der Qualität des vorherigen Lebens ab. Da der durchschnittliche Burmese kaum hoffen kann, sich dem Kreislauf von Leiden und Wiedergeburt durch die Erlangung des Nirvana zu entziehen, gilt sein Streben einer besseren Wiedergeburt. Die Mönche, die sich 227 Lebensregeln unterwerfen, sind in der Lage, eine weitaus reinere und strengere Form des Buddhismus auszuüben.
Die Nats und andere Glaubensvorstellungen
An dieser Stelle scheint es mir geboten, einen kurzen Blick auf andere Glaubensvorstellungen zu werfen, die in Burma neben dem Buddhismus existieren. Das Besondere an der Religiosität der burmesischen Laien ist die Vermischung der Lehren des Buddha mit einem althergebrachten Geisterkult, der Nat-Verehrung, und einem Glauben an das Übernatürliche, der psychische und magische Phänomene einschließt. Diese letzten finden ihren Ausdruck in Amuletten, Tätowierungen, Zaubersprüchen und einem ganzen Sortiment symbolischer Kleinigkeiten, mit denen fliegende Händler auf den Vorplätzen und im Inneren der Tempel gute Geschäfte machen. Die heiligen Stätten werden von Wahrsagern, Propheten, Hellsehern, Wunderheilern und Spiritisten aller Art geradezu belagert.
Die Nats gehen auf eine Tradition animistischer Glaubensvorstellungen zurück, die es in Burma schon lange gab, als die Lehren des Buddha ihren Einzug hielten. König Anawrahta, der Begründer des ersten Myanmar-Reiches vor nahezu tausend Jahren, erklärte siebenunddreißig Nats zum untergeordneten Gefolge des erleuchteten Buddha und verleibte sie somit offiziell dem burmesischen Buddhismus ein.
Die Nats, Dämonen und Geister von längerer Lebensdauer als die Menschen, richten Unheil und Schaden an, wenn sie nicht gebührend verehrt und durch Gaben – Blumen, Geld oder Nahrung – auf den ihnen gewidmeten Altären besänftigt werden. Wohlgesonnen, können sie in Zeiten der Not aber auch um Beistand angerufen werden. Der König der Nats ist ein Naturgeist, der viele Gemeinsamkeiten mit dem Gott Indra der hinduistischen Mythologie aufweist. Um jeden Nat rankt sich eine tragische Erzählung, die irgendwie mit der Geschichte des Landes in Verbindung steht, und zusammen bilden diese Erzählungen die Grundlage der burmesischen Legenden, Mythen und Dramen. Der Mount Popa, ein alleinstehender, hoch aufragender Felsen bei Bagan, gilt als die Heimstätte der Nats. Wir werden diesem wichtigsten Ort der Nat-Verehrung in meinem Bericht über die Wunderwelt Bagan im zweiten Teil dieses Buches begegnen.
Kehren wir nun zum Hauptthema dieses Kapitels zurück. Der gläubige burmesische Buddhist, der eine besseren Wiedergeburt anstrebt, bemüht sich in erster Linie, die fünf Grundregeln oder Gebote der buddhistischen Moral zu achten. Ihnen zufolge darf er
• kein Lebewesen töten,
• nicht stehlen,
• nicht lügen,
• keinen Ehebruch begehen,
• und keinen Alkohol trinken.
Aber damit nicht genug. Zum Zeichen der Verehrung rezitiert er dreimal täglich eine feierliche Formel, nimmt sich Zeit zum Beten und legt zu Hause auf dem Familienschrein oder in der Pagode eine Gabe nieder. In Gebetshallen und Tempeln halten die Mönche langwierige Zeremonien ab, und oft schallt ihr Gesang, verstärkt durch den ihrer Gefolgschaft (überwiegend Frauen), von großen Lautsprechern getragen über beträchtliche Entfernungen. Außer diesen frommen Übungen wird jeder Buddhist zur Meditation angehalten, sei es allein oder in Gemeinschaftszentren. Die überzeugten burmesischen Buddhisten glauben an folgende Vier Edlen Wahrheiten:
• Leben birgt immer ein Element des Leidens;
• der Ursprung des Leidens ist der „Durst” der Begierde;
• das Ende des Leidens erfolgt durch Überwindung aller Begierden und weltlichen Bindungen;
• der Weg zu diesem Ziel ist der Achtfache Pfad des edlen Handelns.
Der Achtfache Pfad gliedert sich in drei Abschnitte mit insgesamt acht Anweisungen zum rechten Handeln:
Weisheit
• rechte Erkenntnis,
• rechte Gesinnung.
Sittlichkeit
• rechte Rede,
• rechte Tat,
• rechter Lebenserwerb.
Innere Sammlung
• rechtes Streben,
• rechte Achtsamkeit,
• rechte Versenkung.
Der sicherste Weg, bei der Wiedergeburt ein besseres Leben zu erlangen, besteht nach Auffassung eines Theravada-Buddhisten darin, die Fünf Gebote einzuhalten, an die Vier Edlen Wahrheiten zu glauben, die acht Anweisungen zum rechten Handeln zu befolgen und, ebenso wichtig, Verdienste zu erwerben. Die Burmesen sind großzügige Spender, aber sie unterstützen lieber buddhistische als weltliche Wohltätigkeitszwecke, weil die buddhistischen Gaben als Verdienste in ein goldenes Buch eingetragen werden, das von himmlischen Wesen gehütet wird. Oft werden Verdienste mit anderen geteilt und können sogar übertragen werden.
Die wertvollste Tat, die den höchsten Verdienst einbringt, besteht darin, Mönch zu werden oder den Mönchen Almosen zu geben, aber auch durch Beten, Meditation, Wallfahrten, Predigten halten oder Predigten hören, durch Respektsbezeigungen gegenüber Älteren und die Bereitschaft, zu teilen, kann man Verdienste erwerben. Der fromme und pflichtbewusste Sohn wird Verdienste auf seine Eltern übertragen. Verdienste anzuhäufen ist von so großer Bedeutung, dass mächtige Führer und lasterhafte Individuen (einschließlich War Lords und Drogenbarone) plötzlich in übereifrige Religiosität und Freigebigkeit verfallen, um mit diesen Werken in das goldene Buch einzugehen und sich für die Zukunft ein besseres Leben zu sichern. Ein prominentes Beispiel dafür liefert Ne Win, der in Yangon gegenüber der berühmten Shwedagon Pagode unter großem Aufwand eine kostspielige neue Pagode errichten ließ.
Zu den schlechten Taten, die ebenfalls aufgezeichnet werden, gehören Verstöße gegen die Fünf Gebote – wobei sogar das Töten eines einzigen Moskitos einen solchen Verstoß bedeutet. Mein Reiseführer Min Min, dem wir in Teil 3 ausführlicher begegnen werden, half mir mit äußerster Gewissenhaftigkeit, jedes Ausmerzen von Insekten in unserem Eisenbahnwagen zu vermeiden, und verbrachte viel Zeit damit, sie lebendig durch das Fenster nach draußen zu befördern.
Mönche und Nonnen in Burma/Myanmar
Von den mehr als dreihunderttausend buddhistischen Mönchen in Myanmar haben etwa ein Drittel ihr ganzes Leben der Sangha, der Bruderschaft der Mönche geweiht. Ihre Gönner – die vielen Armen und die wenigen Reichen – spenden rund 10 Prozent ihres Einkommens für buddhistische Einrichtungen und Aktivitäten. Dieser Prozentsatz mag gering erscheinen, aber wenn man bedenkt, dass er 10 Prozent des Gesamteinkommens der Bevölkerung bedeutet, ergibt sich eine gewaltige Summe, die zweifellos erhebliche Auswirkungen auf Myanmars Wirtschaft und Gesellschaft hat. Eine gut gestellte Sangha kann zugleich eine wichtige und unabhängige Rolle im Leben der burmesischen Gesellschaft spielen. In der Vergangenheit haben sich empörte junge Mönche wiederholt gegen die Regierung gestellt.
Heute jedoch scheinen die Führer der Sangha, die zumeist ältere Äbte sind, eine Politik der Koexistenz mit der Militärregierung zu vertreten. An Feiertagen bezeigen die Generäle den führenden Mönchen regelmäßig ihren ergebenen Respekt, und umgekehrt weist die Führung der Sangha die jüngeren Mönche an, sich aus der Politik herauszuhalten. Während die politische Führung des Landes, als sie noch auf dem Weg zum Sozialismus war, den Einfluss des Buddhismus zurückzudrängen suchte, nahm sie in letzter Zeit jede Gelegenheit wahr, ihre religiöse Ergebenheit zu demonstrieren. Die Regierung hat das Recht zur Ernennung aller Richter des Sangha Council, der höchsten Körperschaft des Sangha, die religiöse Streitigkeiten regelt und abtrünnige Mönche bestraft.
Jede Theravada-Gesellschaft zollt den Mönchen die höchste Ehrerbietung, und auch von den mächtigsten Militärs oder Politikern wird erwartet, dass sie sich vor ihnen, den wandelnden Symbolen des Buddha, verbeugen. Auf der anderen Seite sollten sich die Mönche nicht in weltliche Angelegenheiten einmischen. Ältere Mönche jedoch können den Kontakt zu weltlichen Kreisen kaum vermeiden, weil sie häufig um Beistand, Rat oder Vermittlung gebeten werden.
Das System des Seniorats und der hierarchischen Kontrolle charakterisiert übrigens nicht nur die Sangha; es ist auch typisch für die burmesische Familie, in der die Rangordnung vom Alter abhängt und die jüngeren Geschwister immer verpflichtet sind, die älteren zu ehren. Min Min erzählte mir von einem bestimmten Tag im Jahr, an dem seine jüngeren Brüder und Schwestern ihm förmlich ihre Hochachtung und Dankbarkeit bezeigen.
Fast alle buddhistischen Männer verbringen zumindest einen Teil ihrer frühen Jugend im Kloster, wobei das Leben, das sie dort erwartet, nicht einfach ist. Novizen und ordinierte Mönche stehen vor dem Morgengrauen auf und gehen hinaus, jeder mit einer Schale, um schweigend von den Gläubigen Reis und anderes Essen entgegenzunehmen. Für manche bleibt es bei einer einzigen Mahlzeit am Tag, andere bekommen Frühstück und ein Mittagessen. Win Win, mein Kutscher in Bagan, der acht Jahre lang Novize war, sagte mir, das Schwierigste für die Jungen sei der Hunger.
In Burma kann ein Knabe mit neun Jahren sein Noviziat im Kloster antreten. Er bekommt einen alten Pali-Namen und seine Aufgabe besteht darin, Pali-Schriften zu studieren und auswendig zu lernen. Im übrigen wird erwartet, dass er die Grundregeln des buddhistischen Verhaltens befolgt. Die meisten von denen, die einer Mönchsgemeinschaft beitreten, bleiben nur einige Wochen oder Monate. Für diejenigen, die sich ordinieren lassen wollen, ist zwanzig Jahre das Mindestalter, um diesen Schritt zu tun. Sie scheren sich den Kopf, entfernen alles Körperhaar, verpflichten sich, die 227 Ordensregeln zu befolgen, und weihen ihr ganzes Leben der Meditation und Lehre der heiligen Schriften. Drei Grundregeln gelten gleichermaßen für Novizen und für ordinierte Mönche:
• Sie dürfen über keinen weltlichen Besitz verfügen, außer den folgenden acht Dingen: Drei Roben, ein Rasiermesser, eine Nähnadel, ein Sieb, damit kein Lebewesen in das Trinkwassergerät, einen Gürtel und eine Almosenschale.
• Sie geloben, nichts und niemanden zu verletzen oder zu beleidigen.
• Sie geloben Keuschheit (was für Frauen bedeutet, dass sie angemessenen Abstand halten sollten, damit sie weder einen Mönch noch dessen Almosenschale berühren).
Anders als die Situation der Mönche, ist die der burmesischen Nonnen ein trauriges Kapitel. Sie werden weniger geachtet, und man gibt ihnen nicht viel. Arm, in rosa Roben und mit geschorenen Köpfen, führen sie ein hartes Leben, indem sie um Nahrung und Almosen bettelnd durch die Straßen ziehen. Der Lehre des Buddha gemäß ist die Wiedergeburt in Gestalt einer Frau die Strafe für schlechtes Verhalten in einem früheren Leben. Westliche Besucher mögen diese Lehre verurteilen, aber die burmesischen Frauen scheinen sie zu akzeptieren, und in anderen Bereichen gewährt Myanmar den Frauen mehr Gleichberechtigung als irgendeine andere asiatische Gesellschaft. Frauen führen Läden, schließen Geschäfte ab, und in den grundlegenden Rechten sind sie den Männern gleichgestellt. Auch das Scheidungsrecht ist unkompliziert, so dass Frauen schlechte Ehen nicht hoffnungslos ertragen müssen.
Wie gesagt, ist der Buddhismus nicht die einzige Religion in Myanmar. Andere Glaubensbekenntnisse reichen von den Baptisten über die römisch-katholische und die anglikanische Kirche bis zum Hinduismus und dem Islam. Man kann wohl von Glück sprechen, daß der Buddhismus eine tolerante Religion ist, und solange die Regierung nicht den verhängnisvollen Fehler wiederholt, den Buddhismus – wie der frühere Premierminister U Nu im August 1961 – zur Staatsreligion zu machen, bestehen gute Aussichten auf eine Fortsetzung der friedlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen. Burma hat genug Kriege, Aufstände, Rebellionen und Erhebungen erlebt. Hoffen wir nur, dass der Glaube an ihre jeweilige Religion den Menschen in Myanmar helfen wird, den Kulturschock zu überwinden, der sie erwartet, wenn ihr Land sich vollständig der Außenwelt öffnet.