Wenn die Touristen die Insel verlassen haben und es einsam wird auf Gotland, unternimmt sie ihre ausgedehnten Touren, geht interessanten Hinweisen nach und entdeckt dabei Erstaunliches. Auf einer Karte im Vorderdeckel des 134 Seiten starken Buches lassen sich ihre zehn Routen mitverfolgen.
• Allein durch das intensive Betrachten des Wracks des deutschen Frachtschiffs Fortuna, das in einer stürmischen Oktobernacht 1969 vor Norsholmen im Norden Gotlands auf Grund lief und eines Fotos der geretteten Besatzung haucht sie den Personen Leben ein.
• Sie besucht ein altes Haus in der Nähe der Inselhauptstadt Visby, das, nachdem die Bagger für den Abriss bereits bestellt waren, doch noch zu späten Ehren kam als Villa Kunterbunt in den bekannten Pippi-Langstrumpf-Filmen.
• Auf der Insel Fårö im Norden trifft sie in ihrer imaginären Vorstellungskraft den berühmten schwedischen Filmregisseur Ingmar Bergman.
• Reiner Zufall und ein leerer Benzintank führen sie in die kultige Musikscheune des Aussteigers Kuten.
• Im Zuckerbäckerparadies von Frau Norrgatts legendärer Konditorei in Visby stellt sie sich geduldig an und beobachtet derweil die anderen Kunden.
• Im ehemaligen Flüchtlingslager Lingen lässt sie das von Kriegsgefangenen erbaute Freilichttheater wiedererstehen.
• Im Wald von Follingbo besucht sie den Landschaftspark, den Jacob Dubbe Anfang des 19. Jahrhunderts angelegt hat.
• In Fridhem versetzt sie sich in die schwedische Prinzessin Eugénie, die hier in der Sommerresidenz ihre größte Liebe erlebt hat.
• In Hablingbo lernt sie Lauri kennen, der im nördlichsten Weinanbaugebiet Europas erfolgreich Rotwein produziert.
• Im letzten Kapitel erklingen die Glocken von 200 gotländischen Kirchen in einem gewaltigen Konzert, das 2013 im Radio übertragen wurde.
Was die Gotland-Geschichten so besonders macht, ist ihre Sprache, die Ausdrucksweise, mit der sie erzählt sind. Anne von Canal versteht es, sich so intensiv in Zeiten und Personen hineinzuversetzen, dass sich Stimmungen auf den Leser übertragen. Sie verwendet Metaphern, die so lebendig sind, dass aus Worten Bilder entstehen. Längst Vergangenes erweckt sie in ihren Erzählungen zu neuem Leben. Sie beobachtet genau und streut scheinbar belanglose Dinge und Nebensächlichkeiten so ein, dass sie wichtig erscheinen. Mein Gotland ist ein sprachliches Kleinod, das neugierig macht auf weitere Bücher der Autorin.
Anne von Canals Gotland ist eigentlich doch jedermanns Gotland. Es ist so vielfältig, so typisch und so untypisch zugleich, das Gotland selbst auch nur noch eine Metapher ist für „die Insel an sich“.
Anne von Canal, Mein Gotland - Erzählungen von Wind, Zeit und Einsamkeit
144 Seiten, 18€
Mare Verlag