Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis*

Kategorie: Reisebücher des Monats ǀ

Der renommierte mare-Verlag veröffentlicht in seiner Klassiker-Reihe u.a. Romane der Weltliteratur, die es wert sind, in neuer Übersetzung vor dem Vergessen bewahrt zu werden. Dies gilt in besonderem Maße auch für Herbert Clyde Lewis‘ Kurzroman Gentleman über Bord, der erstmalig 1937 erschien, kaum beachtet oder gewürdigt wurde und nun sein verdientes Comeback erlebt.

Herbert Clyde Lewis, Gentleman über Bord, Cover-Foto: mare Verlag

Der gutsituierte New Yorker Börsenmakler Henry Preston Standish, ein „Mann in den besten Jahren“, hat alles, was sich ein Mensch wünschen kann, materiellen Wohlstand und familiäres Glück. Und trotzdem (oder gerade deshalb?!) fällt er von einem Tag auf den anderen in eine Art depressive Verstimmung, aus der er glaubt, sich nur „retten“ (!) zu können, indem er alles zurücklässt und sich auf eine planlose weite Reise begibt.

Tatsächlich scheint ihm das Unterwegssein gut zu tun, die Wochen und sogar Monate vergehen, seine Stimmung bessert sich, aber die von seiner Frau und seinen Kindern herbeigesehnte und von ihm selbst avisierte Heimreise zögert er immer weiter hinaus. An Bord einer langsamen „Pazifikfähre“ genießt er fast zwei Wochen lang das komfortable Leben auf See in einer kleinen Gemeinschaft von Passagieren, unter denen er sich wohlfühlt, bis ihm am Morgen des 13. (!) Tages bei Sonnenaufgang „plötzlich und unerwartet“ ein triviales, aber fatales Missgeschick passiert: er rutscht auf einer Öllache aus und fällt über Bord, ohne dass jemand es bemerkt...

Was jetzt geschieht, ist die eigentliche „Handlung“ dieses kurzen, aber faszinierend intensiven Romans: Was spielt sich in einem Menschen ab, der völlig unvermutet aus der materiellen und sozialen Geborgenheit ins Chaos der existenziellen Bedrohung ab“stürzt“? Der viele Stunden andauernde Kampf ums Überleben löst in dem Protagonisten einen Bewusstseinsprozess aus, in dem er sein bisheriges Dasein in einem ganz anderen Licht sieht und sich voller Hoffnung und Zuversicht ein erfülltes Leben nach der ersehnten und lange Zeit von ihm nie in Frage gestellten Rettung ausmalt.

Parallel dazu vermittelt uns ein allwissender Erzähler das von unschuldiger Gleichgültigkeit geprägte Alltagsleben der verschiedenen Passagiere an Bord des Schiffes, wo man „ewig“ braucht, die Abwesenheit Standishs zu realisieren und diese dann unisono als Selbstmordversuch einstuft. Nur widerwillig leitet der Kapitän die ihm vorgeschriebene Umkehr und Suche nach dem „Gentleman über Bord“ ein....

Lewis als Autor und Bonn als kongenialer Übersetzer versetzen den Leser so raffiniert in beide Welten, die des Schiffbrüchigen und die der Besatzung und der Passagiere, dass man glaubt, man erlebe das Geschehen live mit.

Die Spannung ist teilweise derart „unerträglich“, dass man den Roman am liebsten ohne abzusetzen bis zum Ende lesen möchte. Man könnte sich sehr gut vorstellen, dass dieser Plot ebenbürtig verfilmt werden könnte. Dies ist kein Zufall, denn H.C. Lewis schrieb später erfolgreich Drehbücher für Hollywood, von denen eins sogar für einen Oscar nominiert wurde.

Herbert Clyde Lewis, Gentleman über Bord, übersetzt von Klaus Bonn, mit einem Nachwort von Jochen Schimmang, gebundene Ausgabe, 176 Seiten, 28€