Laurent Binet, Eroberung (Roman)


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In Laurent Binets unkonventionellem Roman "Eroberung" wird nicht nur die Geschichte der Entdeckung Amerikas durch die Wikinger, sondern auch die Geschichte Europas völlig auf den Kopf gestellt. Das Buch gliedert sich in vier unterschiedlich große Teile, die in ihrer historischen Reihenfolge aufeinander aufbauen.

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Die Wikinger, die vor ungefähr 1000 Jahren das amerikanische Festland erreichen, dringen bis nach Peru vor, wo sich ihre Spur verliert.

Knapp 500 Jahre später setzt Christoph Columbus seinen Fuß auf amerikanischen Boden, den er, anders als in den überlieferten Fakten, bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen soll. Weder er, noch sonst jemand von seiner Mannschaft kehren je wieder in die Heimat zurück. Sein Unternehmen ist auf der ganzen Linie gescheitert. Sein Tagebuch gibt Auskunft über seine letzten Lebensjahre.

Dennoch ist letztendlich ihm die weitere fortlaufende Geschichte zu verdanken. Der Inka-Herrscher Atahualpa zieht mit seinem Gefolge über Quito weiter nach Kuba, wo sie auf die verlassenen, aber immer noch seetüchtigen Schiffe der Columbus-Flotte stoßen. Mittels dieser und der spanischen Seekarten brechen sie nach Osten auf und erreichen, aus ihrer Sicht, den Orient in Lissabon gerade, als ein verheerendes Erdbeben die Stadt heimsucht. Atahualpa und seine Getreuen kommen in einem nahegelegenen Kloster unter, das „von eigenartigen Typen bevölkert ist“. Die Mönche, in ihren Augen „die Geschorenen“, vermitteln ihnen die ersten Eindrücke der fremden Kultur und Lebensumstände in diesem unbekannten Land.

Atahualpa gelingt es, immer weiter in europäische Länder vorzudringen, wo er seine Truppen überallhin schickt, wo seine Hilfe vonnöten ist. Zwar werden Aufstände blutig niedergeschlagen, aber er hilft auch, indem er allerlei Reformen zum Wohle des Volkes einführt.

In Wittenberg trifft er auf Martin Luther, dessen Ansichten er gar nicht zu teilen vermag. Stattdessen bringt er 25 Jahre nach diesem seine 95 Sonnenthesen an der Kirchentür der Schlosskirche zu Wittenberg an, in denen die kulturellen und religiösen Unterschiede, so sehr sie sich auch angeglichen haben mögen, offen zutage treten.

Der Siegeszug der Inka hält weiter an. Bald gibt es überall Sonnentempel, die Regierenden tragen Federschmuck, und auf den Feldern wird Quinoa angebaut.

Im vierten und letzten Teil ist der spanische Nationaldichter Miguel de Cervantes die Hauptperson. Nach einem abenteuerlichen Leben in Spanien, Italien und Frankreich wird er an der Seite des berühmten Malers El Greco in die großen Reiche in Übersee deportiert, wo die siegreiche Eroberung des westlichen Europa ihren Anfang genommen hatte.

Man vergisst beim Lesen bisweilen, dass es sich eigentlich um einen Roman handelt und nicht um ein geschichtliches Sachbuch. Die Sprache ist einfach, der Stil so, als dokumentiere ein zeitgenössischer Chronist das Geschehen jeweils aus der Sicht und mit dem Wissensstand der damaligen Zeit. Dabei werden normaler Rotwein zum geschätzten schwarzen Gebräu, Mönche mit Tonsur zu den Geschorenen, deren Häuptling der Papst ist, und ein Kruzifix zum Angenagelten Gott.

Was die ganze Geschichte so glaubwürdig macht, ist die Einbeziehung bekannter Personen aus dem 16. Jahrhundert, neben den bereits bekannten gekrönten Häuptern zum Beispiel Machiavelli, Erasmus von Rotterdam, Thomas Morus oder die Fuggers in Augsburg. Es ist der berühmte Maler Tizian, der das bekannteste Porträt von Atahualpa malt, und es ist der große Michelangelo, der in Granada die Grabstätte von Karl V. gestaltet.

Am Ende fragt man sich vielleicht tatsächlich, warum in keinem Sevilla Reiseführer die letzte Ruhestätte Atahualpas erwähnt wird. Eroberung ist ein unterhaltsamer Abenteuerroman, doch er führt und vor Augen, wie es gewesen sein könnte, wenn die Geschichte umgekehrt verlaufen wäre. Auch Liebhaber von historischen und Fantasy Romanen kommen voll auf ihre Kosten, ja sogar die Sachbuchleser. Auf jeden Fall regt das "Was wäre, wenn" zum Nachdenken über geschichtliche Abläufe an.

Laurent Binet, Eroberung, Rowohlt Verlag, 384 Seiten, 24€, auch als E-Book und Hörbuch erhältlich!