Ein Bildband zwischen Sehnsucht, Stereotyp und Entdeckerlust
Ästhetik und Bildsprache
Schon beim ersten Durchblättern wird deutlich: Die Stärke des Bandes liegt in seiner opulenten Bildsprache. Großformatige, farbintensive Fotografien – meist von renommierten Reisefotografen – dominieren das Layout. Die Motive sind sorgfältig gewählt, oft im goldenen Licht der Morgen- oder Abendstunden aufgenommen und präsentieren sich in perfekter Komposition. Fachwerkhäuser, Natursteinmauern, enge Gassen, üppige Blumentöpfe, Kopfsteinpflaster und romantische Altstadtsilhouetten vor Sonnenuntergang prägen das Bild.
Diese konsequent ästhetisierte Perspektive erzeugt eine starke Sehnsucht nach dem vermeintlich Ursprünglichen und Schönen. Allerdings wird dabei ein Idealbild konstruiert, das mit der Alltagsrealität vieler Orte nur bedingt übereinstimmt. Aktuelle soziale, wirtschaftliche oder infrastrukturelle Herausforderungen bleiben ausgeblendet. Störende Elemente wie Mülltonnen, Baustellen oder moderne Zweckbauten sucht man vergeblich – das Buch inszeniert Europa als kontinentweiten Sehnsuchtsraum.
Textanteil und Informationsgehalt
Die Begleittexte sind knapp gehalten und dienen vor allem der atmosphärischen Rahmung. Sie liefern grundlegende Informationen zu geografischer Lage, historischen Hintergründen und kulturellen Besonderheiten, verzichten jedoch weitgehend auf analytische Tiefe oder kritische Reflexion. Die Darstellung bleibt deskriptiv und gelegentlich klischeehaft: Viele Orte werden als „verborgene Schätze“ oder „zeitlose Juwelen“ gepriesen, ohne auf die Ambivalenzen zwischen touristischer Erschließung und Bewahrung einzugehen.
Wer detaillierte Hintergrundinformationen, praktische Reisetipps oder Einblicke in die Lebensrealität der Bewohner erwartet, wird enttäuscht. Auch Aspekte wie Übernutzung durch Tourismus, demografischer Wandel oder regionale Besonderheiten werden weitgehend ausgespart. Für Kenner einzelner Regionen wirkt die Darstellung daher mitunter verkürzt oder sogar stereotypisierend
Auswahl und Vielfalt
Positiv hervorzuheben ist die große geografische Bandbreite: Das Spektrum reicht von den windumtosten Äußeren Hebriden bis zur sonnenverwöhnten Kykladeninsel Amorgos, von norwegischen Fjorddörfern bis zu andalusischen Pueblos Blancos. Neben bekannten Postkartenmotiven finden sich erfreulicherweise auch weniger geläufige Orte wie Eguisheim (Elsass), Albarracín (Aragón) oder Piran (Slowenien). Das spricht für eine gewissenhafte, wenn auch subjektive Kuratierung.
Allerdings bleibt die Auswahl weitgehend intransparent: Nach welchen Kriterien die Orte ausgewählt wurden – etwa Bevölkerungszahl, UNESCO-Status, historische Bedeutung oder touristische Unberührtheit – wird nicht erläutert. Eine Übersichtskarte mit allen vorgestellten Orten fehlt, was die Orientierung erschwert und den Nutzwert als Reiseplanungsinstrument einschränkt.
Empfehlung
Kleine Orte, großer Zauber ist ein visuell beeindruckender, atmosphärisch starker Bildband, der vor allem als Inspirationsquelle und Stimmungsaufheller funktioniert. Er lädt zum Träumen und Staunen ein, bleibt dabei jedoch an der Oberfläche und blendet die komplexen Realitäten ländlicher Räume weitgehend aus. Wer konkrete Reisetipps, fundierte Analysen oder kritische Einordnungen sucht, wird nicht fündig. Als Geschenk oder als Coffee-Table-Buch für Ästheten, Fernwehsammler und Freunde pittoresker Orte ist der Band jedoch eine gelungene Wahl.
KUNTH Kleine Orte, großer Zauber: Die schönsten Dörfer und Kleinstädte Europas (KUNTH Reise-Inspiration) Gebundene Ausgabe, 288 Seiten, 29,95€