Typisch deutsch!

Deutsches Eck © mobasoft24-pixabay.com
Das Deutsche Eck in Koblenz © mobasoft24-pixabay.com

Was ist typisch deutsch? *

„Deutschland“, las der Autor aus Südamerika vor, „ist ein Land der Extreme“. Und erhielt von seiner Lektorin umgehend eine Abmahnung. Gemeinplätze hätten in einer Rede, die der mit einem Stipendium das Land besuchende Schriftsteller vor interessierten Deutschen vortragen sollte, nichts zu tun. So erlebt in den 1980ern, im damaligen Westdeutschland. Sind Extreme also typisch deutsch?

Eher nicht, würde man zumindest heute und durch eine schnelle Internetrecherche informiert denken. Als typisch deutsch gelten eher, hm, behäbige, verlässliche Dinge. Nachhaltigkeit. Mülltrennung. Fleischkonsum (Wurst). Obrigkeitshörigkeit, Gemütlichkeit, Made in Germany, Pünktlichkeit. Umweltschutz und die Autobahn, auf der (noch) extrem klimaschädlich gerast werden darf. Deutschland, das Land der Wurst, gilt aber auch als eines der Länder Europas mit den meisten Vegetariern (verlässliche Zahlen gibt es nicht; der Vegetarierbund schätzte 2015, dass ca. 10 Prozent der Deutschen auf Fleisch verzichten). Bio muss sowieso alles sein, der Umwelt-/Klimaschutz wird zumindest auf den Wahlplakaten großgeschrieben, die selbstgesteckten Ziele wird das Land aber wenigstens 2020 nicht erreichen, oder nur auf der Ebene der Privathaushalte. Also doch zumindest ein Land der Gegensätze? Nun, welches ausreichend große Land wäre das nicht? Gibt es also nur typische Regionen?

gamsbart © holzijue-pixabay.com
Zu einem bayrischen Trachtenhut gehört der Gamsbart © holzijue-pixabay.com

Als typisch deutsch wird international oft gerade die bayerische Kultur angesehen. Trachten, Oktoberfest, Bier – das ist Made in Germany. Und BMW passt auch dazu, denn ein Deutschland ohne Automobilindustrie und Autobahn ist einfach nicht vorstellbar. Wer nur Lederhosen, Maßkrüge und Weißwürste (vegan oder nicht) sieht, der vergisst, dass die bayerische Kultur innerhalb Deutschlands eine Art Gegenpol zum nüchternen Norden bildet. Hanse, Seefahrt und Stadtstaaten – Realitäten des deutschen Nordens, werden eher selten als typisch deutsch angesehen. Obwohl die Region im 19. Jahrhundert für viele Europäer, darunter jede Menge Deutsche, Sprungbrett in die Neue Welt war. Tatsächlich wurde ich schon einmal erstaunt angesehen, als ich, als Deutscher, sagte, ich käme aus einer Hafenstadt. Erstaunlich, immerhin rangieren Hamburg und Bremerhaven/Bremen in der Wikipedia-Liste der größten Häfen Europas auf Platz 3 und 4. Statt der Weltoffenheit der alten Stadtstaaten gelten da als typisch deutsch schon eher die militärischen Traditionen des Flächenstaats Preußen, dem Handel und Wandel vorziehende Bremer und Hamburger oft kritisch gegenüberstanden. Mit Fasching und anderen Formen ausgelassener, typisch deutscher Geselligkeit durfte man den „Fischköppen“ lange gar nicht kommen (das hat sich erst durch die internationale Durchsetzung von Halloween als Partygelegenheit gewandelt). Ist Deutschland also einfach nur ein typisches Multikulti-Gebilde, in dem die Regionen meist friedlich nebeneinander her existieren und sich dabei ein klein wenig kabbeln?

Brandenburger Tor © NikolausBader-Pixabay.com
Das Brandenburger Tor in Berlin ist das bekannteste deutsche Wahrzeichen © NikolausBader-Pixabay.com

Naja. Nichts bleibt, wie es ist, der ständige Wandel ist modern, und als moderner Staat hat Deutschland mit der alten und neuen Hauptstadt Berlin ja gleich eine echte Vorzeigemetropole, die von einer der wichtigsten Städte der Moderne, von der Strom- und Forschungsmetropole des Kaiserreichs zum armen und heute serientauglichen Sündenbabylon der Weimarer Republik wurde, zum schlafenden Vulkan der deutschen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. In Folge wurde Berlin zur Hauptstadt des Bösen (Fast-Germania), zur Heimat der Freien (Kennedys West-Berlin), zur sozialistischen Zentralstadt am Westrand des Ostblocks, zum Symbol des Endes des Kalten Krieges und zum oft als untypisch deutsch angesehenen hippen und alternativen Disneyland der EU, in dem man billiger als irgendwo sonst leben konnte. Die Beurteilung des aktuellen Status darf man hier gerne selbstaktiv einfügen.

Dabei ist die Hauptstadt Berlin, oder war es, vor allem eines: ein Kompromiss zwischen den kaiserdeutschen oder weimardeutschen oder bundesdeutschen Regionen. Denn während in Deutschland Freiheit und freies Zusammenleben möglich waren, da geschah das regionsübergreifend vor allem in Berlin. Daher war die Stadt während ihres Aufstiegs und besonders auch während der 80er- und 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts vielleicht das Typischste oder, besser gesagt, das Deutscheste, was Deutschland zu bieten hatte, inklusive der für jene Zeiten typischen Wandsprüche „Schwaben raus“ und „Ausländer! Lasst uns mit den Deutschen nicht allein“ ... Geheuer waren „die Deutschen“, wie immer man sie definieren mag, sich selbst wohl nie. Bestehen sie deswegen so sehr auf ihre Unterschiede? Tun sie das überhaupt? Vergessen sollte man hier keineswegs die lange bestehenden Unterschiede zwischen (kapitalistischem) Westen und (sozialistischem) Osten. Manchem gelten gerade die Schwierigkeiten beim Zusammenwachsen, und auch die Ungerechtigkeiten, als typisch deutsch. Oder typisch westdeutsch.

Zahlenrelevant typisch für Gesamtdeutschland sind durchaus einige Dinge. Der Tatort (1970–Gegenwart) beispielsweise, eine Krimiserie, die oft auch gerne in Freundesgruppen zu Hause oder gemeinsam in Kneipen konsumiert und kommentiert wird, in „alten“ wie „neuen“ Bundesländern. Deren Erfolgsrezept ist es, dass die Serie in allen Bundesländern produziert wird. Es ist also nicht alles Berlin, was glänzt, das föderale Prinzip wird in Deutschland stark gelebt, eine übermächtige Hauptstadt will eigentlich niemand mehr haben (die gab es natürlich in der hoffentlich nie wieder als typisch anzusehenden Vergangenheit, im Kaiserreich und während der Naziherrschaft). Aber nochmal zu den deutschen Krimiserien: Derrick (1974–1998) gilt als die meistverkaufte deutsche Fernsehserie. Sie zeigte in über 100 Ländern, dass Deutsche gerne Trenchcoats und Maßanzüge tragen, BMWs fahren und als Kriminalisten taugen. Und spielte in München. Typisch deutschbayerisch eben. Und typisch deutsch könnte auch sein, dass Serien und Figuren nicht nur konsumiert, sondern auch kritisch betrachtet wurden und werden. Zur Vorgängerserie Derricks (Der Kommissar, 1968–1975) schrieb ein Kritiker: „Der (Kommissar), ein väterlicher Beamter mit klarem Wertekompass und stets korrekt gekleidet, war als Gegenentwurf zu amerikanischen Ermittlertypen konzipiert worden.“ Also doch behäbiges Deutschland, das den moralischen Erklär-Opa braucht? Hm, und vielleicht war eine moralische Bewertung deutschmenschlicher Taten damals gar nicht so unangebracht. Nun könnte man hier auch den alten Spruch „Zwei Deutsche, drei Meinungen“ anbringen; nur leider gibt es diesen Spruch, jedenfalls gefühlt oder inzwischen, über jede definierbare Ethnie oder Staatszugehörigkeit. Ob er irgendwo oder bei irgendwelchen Gruppen stimmt oder nicht stimmt? Wer weiß.

Goethe-Schiller © cocoparisienne-pixabay,com
Das Goethe-Schiller-Denkmal vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar © cocoparisienne-pixabay.com

Hier passt auch ein Zitat von Goethe, einem der Urväter der typisch deutschen Literatur (schließlich hält auch Deutschland, hier wieder neben anderen Regionen, sich für das Land der „Dichter und Denker“): „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.“ Oft zitiert während der deutschen Trennung, scheint der Text die großen Möglichkeiten der angenommenen einen deutschen Seele aufzuzeigen. Das wären unter anderem Entzweiung, Selbstentfremdung und Scheitern an der eigenen Uneinheit. Hybris eben. Faustisch sein. Die Welt schaffen. Und jede Menge Waren.

Made in Germany, typisch deutsche Qualität, ist ein interessanter Punkt. Dass der Begriff in der englischsprachigen Welt geprägt wurde, dürfte nicht verwundern. So begann der Aufstieg von Made in Germany im Jahr 1887 in London mit dem Merchandise Marks Act, der im Vereinigten Königreich bestimmte, dass die Herkunft von Waren klar erkenntlich zu machen war. Damit sollte verhindert werden, dass minderwertige Waren aus dem allgemeinen Ausland als britische Produkte ausgewiesen und im Königreich verkauft werden. Die englischsprachige Wikipedia weist hier besonders auf Uhrengehäuse aus der Schweiz hin, der separate Artikel Made in Germany weiß: Die meisten dieser minderwertigen Artikel kamen aus dem Deutschen Reich, das eine protektionistische Einfuhrpolitik betrieb. Die Geschichte erzählte das Magazin Der Spiegel später unter dem schönen Titel „Dreist, dreister, Deutschland“ und berichtete, dass durch die Bloßstellung durch den Aufdruck Made in Germany das blamierte Niedriglohnland Deutschland eine beispiellose Qualitätsinitiative startete. Das hat funktioniert: Nicht erst 2017 landete Deutschland auf Platz 1 des Made-in-Country-Index. Sind Qualität und Dreistigkeit also typisch deutsch? Oder gar, noch schlimmer, die Teilung in eine wohlhabende Elite und eine mit brüchiger Sicherheit belohnte Arbeiterschaft?

Schafkopf © planet_fox-pixabay.com
Das traditionelle Kartenspiel Schafkopf ist hauptsächlich in Süddeutschland verbreitet © planet_fox-pixabay.com

Hm. Auch der Skatabend wird oft als „typisch deutsch“ bezeichnet – also das gemeinsame Kartenspiel in der Kneipe. Das Skatspiel, das sich in Altenburg (Thüringen) aus dem bayerischen Spiel Schafkopf entwickelt hat, ist sicher das bekannteste deutsche Spiel und inzwischen als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Denn Spieleabende sind in Deutschland sehr verbreitet – besonders beliebt sind Autorenspielen wie der Klassiker Die Siedler von Catan (1995), die in den USA oft German Games genannt werden, obwohl viele dieser Spiele aus Amerika kommen und als Gattung dort auch ihren Ursprung haben. Typisch also durch optimierende Übernahme? Als typisch deutsch gilt auch der den Spieleabenden peripher verwandte Stammtisch, das regelmäßige Treffen von Gruppen in einer Bar oder Kneipe, und die damit verbundene Stammtischpolitik, laut Bismarck, einem Mitgründer des Deutschen Reichs, eine typisch deutsche Sache: „Es ist ein Grundbedürfnis der Deutschen, beim Biere schlecht über die Regierung zu reden.“ Diese im Grunde sicher nicht negative deutsche Tendenz, die aber zumindest dem Stereotyp zufolge an vielen Tischen oft in lokaldiktatorische oder rechtsgerichtete Rechthaberei umschlägt, statt zur Diskussion zu werden, wird zwar meist mit alten greinenden Männern in Verbindung gebracht, hat sich aber inzwischen ganz natürlich per Influencer und Stammpublikum ins Internet bewegt, wo sie erstmal etwas links wirkt. Aber Sozialmedien sind ja immer für überraschende Wendungen gut. Jedenfalls – ist Youtuben typisch deutsch?

Sicher nicht, denn die Kultur in Deutschland wird ja, wie überall, einfach globaler. Und so wird, was immer man einst als „national“ betrachtete, endlich entwertet – oder einfach als Vorurteil entlarvt. Auch wenn Vorurteile und Nationalstereotypen sich oft sehr virulent halten und teilweise auch neue Volksgruppen hervorbringen, so beispielsweise die Biodeutschen, eine wohl eher abwertend gemeinte Bezeichnung für in Deutschland geborene Personen ohne Migrationshintergrund.

Im Grunde fragt man sich ja manchmal, ob man ein „typisch deutsches“ Merkmal überhaupt braucht, ob das einen Sinn hat, ob wir ohne nicht besser dran wären. Freier. Und so ein Ansatz ist natürlich vor allem eines: typisch deutsch.

(Travis Elling ist u.a. Autor der Reisebücher Berlin und Andalusien)

 

Gewusst?

Der berühmte Dichter Friedrich Schiller lagerte faule Äpfel in seiner Schreibtischschublade: Deren Geruch soll ihn inspiriert haben. Seinem Freund Johann Wolfgang von Goethe hingegen soll bei einem Besuch bei ihm deswegen ziemlich übel geworden sein. Die Brüder Grimm hingegen waren inbrünstige Gegner der Großschreibung, Jacob Grimm erachtete sie 1854 als eine „peinliche und unnütze“ Schreibweise. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war ein französischer Arzt der Ansicht, dass das deutsche Volk mehr „kacken“ würde als andere, dazu prägte er den Fachbegriff „la Polychésie de la race allemande“ (das übertriebene Darmentleerungsbedürfnis der deutschen Rasse). Deutsche Männer besitzen durchschnittlich jeweils 19 Unterhosen, wobei jeder Siebte diese länger als einen Tag trägt. In der Oberpfalz gibt es einen Ort namens Thomasgschieß, auch Pumpernudl und Katzenhirn sind bayerische Ortsbezeichnungen. Jeder sechste deutsche Arzt für innere Medizin wurde bereits mindestens einmal von einem Patienten verprügelt. Und in Berlin regnet es pro Tag zehn Tonnen Taubenexkremente. Übrigens verzehrt der durchschnittliche Berliner 20 Currywürste jährlich, doppelt so viele wie der deutsche Durchschnittsbürger. Etwa 11 Prozent der Deutschen heißen mit Nachnamen Müller. Den ebenfalls beliebten Döner erfand 1972 der türkische Gastronom Kadir Nurmann in Berlin, Konrad Adenauer 1916 die Sojawurst. In Dortmund hingegen braut man mehr Bier als in München. Die Farbe des Weißen Hauses in Washington D.C. stammt aus Diedorf in Bayern. Und die Farbe der Sitzbezüge im Deutschen Bundestag nennt sich „Reichstags-Blue“. Der Slogan „Made in Germany“ sollte einst die Engländer auf die mangelnde Qualität schlechter Produkte hinweisen. Und im Zweiten Weltkrieg gestattete man im ganzen Land „Ferntrauungen“: Anstelle des Bräutigams war ein Stahlhelm vor Ort.

 

Typisch deutsch! ist ein Auszug aus:

Länderklischees
Alle Iren haben rote Haare