Was ist typisch mexikanisch? *
Dass ich nicht länger in Mexiko City bin, das ist mir wieder einmal so richtig bewusst geworden, als ich im vergangenen Januar am Münchner Goetheplatz wegen 30 Sekunden Trödeln meine U-Bahn versäumt hatte und erst nach einer relativ genauen Wartezeit von 9 Minuten und 30 Sekunden meine Weiterfahrt antreten konnte.
In Mexiko, das etwa sechs Mal so groß ist wie Deutschland, dabei aber nur etwa eineinhalb Mal so viele Einwohner hat, nimmt man es mit der Pünktlichkeit nämlich nicht ganz so genau, wie wir das aus vielen Staaten in Mitteleuropa kennen. Und auch sonst scheint man in diesem Lande die Dinge, die wirklich genau ausdefiniert und vorausgeplant sind, an ein bis zwei Händen abzählen zu können.
Unternehmen wir einen kleinen Ausflug an den Golf von Mexiko, um uns anhand der Hafenstadt Veracruz anzuschauen, wie sich diese Ungenauigkeit bereits in die Gründung der ersten europäischen Siedlung in Mexiko hineingeschlichen hat. Wenn man dort an der berühmten Festung San Juan de Ulúa steht und auf das dunkelblaue Meer blickt, kann man es schon fast vor sich sehen, wie Hernán Cortéz vor über 500 Jahren über den Atlantik gekommen und an einem Karfreitag im April 1519 hier die erste spanische Siedlung mit Namen „Villa Rica de Vera Cruz“ gegründet hat.
Wer es dann aber so richtig genau wissen möchte, wo, wann, wie und überhaupt, der kann relativ zügig herausfinden, dass er sich streng genommen überhaupt nicht im originalen Veracruz aufhält, weil diese Siedlung nämlich in Wirklichkeit über 100 km vom heutigen Veracruz entfernt gegründet worden ist. Man musste sie aber damals aufgrund der Belastungen durch die heftigen Nordwinde recht bald wieder verlegen und gründete am Standort des heutigen La Antigua im Jahre 1525 ein neues, zweites Veracruz. Erst 1585 wurde die bereits erwähnte Festung San Juan dann zu einem Haupthafen ausgebaut und rund um dieses Bauwerk entstand schließlich das insgesamt dritte und bis heute zumindest letzte Veracruz in Mexiko, wo wir jetzt also den Ausblick genießen.
Hätten die Mexikaner Ende des 19. Jahrhunderts auf die Engländer gehört, die damals in Veracruz die Konstruktion eines Schienennetzes nach europäischem Vorbild in Planung hatten, könnten wir jetzt wahrscheinlich mit der U-Bahn zum örtlichen Bahnhof fahren und dann eine Reise mit der Eisenbahn nach Mexiko City unternehmen. Allerdings haben sich hier letztlich die US-Amerikaner mit ihrem Verkehrskonzept durchgesetzt, das seinen Schwerpunkt bekanntlich relativ bald auf Asphaltstraßen und Automobile legte. Deswegen gibt es heute auch nur noch eine einzige mexikanische Bahnstrecke, die von Personenzügen befahren wird.
Wir steigen daher also in einen der vielen Busse ein, die tagtäglich durch dieses Riesenland fahren. Und wenn wir einmal aus dem Fenster schauen, wundern wir uns wahrscheinlich bald, warum wir laut Info auf den Autobahnschildern anscheinend auf dem Weg ins 400 km weit entfernte „México“ unterwegs sind. Denn immerhin liegen alle drei Veracruces (zumindest heute) auf mexikanischem Staatsgebiet, ganz egal, wo man jetzt eingestiegen wäre. Wenn wir dann nachfragen, werden wir erfahren, dass wir uns sehr wohl auf dem richtigen Weg befinden und es die hierzulande übliche Abkürzung „México“ (für „Ciudád de México“) anscheinend sogar ins zuständige Straßenverkehrsamt geschafft hat, wo man so immerhin zwei Wörter weniger pro Schild schreiben muss. Und es scheint sich auch niemand hier an dieser Vermischung von Staats- und Städtenamen sonderlich zu stören.
Wenn ich mit meiner Freundin, die aus Mexico City stammt, durch das Land reise, ist eigentlich jeder Taxifahrer, Rezeptionist oder sonstig neugieriger Mensch mit der Antwort „aus Mexiko“ voll und ganz zufrieden, wenn es darum geht, „wo genau“ in Mexiko wir denn jetzt herkommen würden. Trotzdem dachte ich mir anfangs noch, dass ich das mit meinem Anfängerspanisch doch sicher viel besser und genauer erklären könnte, indem ich ab jetzt einfach nur noch „Estado de México“ sage, wenn mich jemand nach meinem Hauptwohnsitz fragt. Das ließ ich dann allerdings recht schnell wieder sein, denn dieser Ausdruck („Mexikanischer Staat“) ist wiederum die Bezeichnung für einen mexikanischen Bundesstaat, der Mexiko City beinahe vollkommen umschließt.
Die korrekteste Bezeichnung wäre hier aber sicher „Estados Unidos Mexicanos“ – doch wann auch immer ich mit dieser Bezeichnung angefangen habe, waren dann wieder meine mexikanischen Gesprächspartner verwirrt: Denn „Estados Unidos“ sagt man in Mexiko eigentlich nur zu den Vereinigten Staaten von Amerika und ein dermaßen langes Wort wie „Estados Unidos Mexicanos“ hört man hier eigentlich höchstens, wenn der Präsident etwas im Fernsehen zu sagen hat. Irgendwann habe ich dann bemerkt, dass es eigentlich genügt, die mexikanische Bundesrepublik ganz simpel als „el país“ zu bezeichnen. Warum hier jetzt aber ausgerechnet jeder bei dem neutralen „der Staat“ genau zu wissen scheint, dass ich gerade von Mexiko spreche, entzieht sich nach wie vor meiner Kenntnis.
In Mexiko muss man für den Erhalt des Führerscheins übrigens nicht unbedingt eine Fahrschule absolvieren, sondern man kann ihn sich einfach in einem der öffentlichen Verkehrsämter ausstellen lassen, wenn man rund 40 Euro dabei hat und die Frage „Können Sie Autofahren?“ mit Ja beantwortet. Wird schon passen. Auch muss man weder hier noch bei allen anderen Amtsgängen seine berühmte „Meldebestätigung“ dabeihaben. Es reicht schon, wenn man die Existenz seiner Wohnadresse mit einer Kopie der Stromrechnung quasi beweisen kann, die dann eben nicht älter als drei Monate alt sein darf. Auf wen diese letzten Endes ausgestellt ist, ist im Grunde aber eigentlich auch egal.
Ob es mit einer Taxifahrerlizenz ähnlich unkompliziert abläuft, das weiß ich nicht genau. Dafür würde jedenfalls sprechen, dass man zumindest in der Ciudad de México (CDMX) in 9 von 10 Fällen stets einen Taxler erwischt, der keine Ahnung hat, wo sich das gewünschte Reiseziel befindet, wenn es sich nicht gerade um den „Zócalo“ handelt.
Das mit dem Zocalo ist übrigens ein hervorragendes Beispiel dafür, wie pragmatisch das mexikanische Spanisch oft gestaltet ist. 1843 begann man nämlich in CDMX mit den Bauarbeiten für ein Denkmal am Platz der Unabhängigkeit, ist dann allerdings nicht viel weitergekommen als bis zum Fundament aus Marmor, das dann letztendlich um 1920 herum wieder abgetragen wurde. Weil man sich aber in dieser Zeit so sehr an diesen „Sockel“ auf dem Hauptplatz gewöhnt hatte, ist „Zocalo“ ein bis heute nicht nur in Mexiko City gültiger Ausdruck für „Stadtzentrum“. So nennt man etwa auch die U-Bahnstation an diesem Platz, die eigentlich der Form halber „Plaza de la Constitución“ heißen müsste (und schreibt es auch so an), aber auch in jedem noch so kleinen Dorf außerhalb dieser großen Stadt weiß jeder Einheimische sofort Bescheid, wenn man ins Dorfzentrum möchte und ihn nach dem Weg zum „örtlichen Zocalo“ fragt.
Sollte man sich aber nicht gerade auf dem Weg ins Stadtzentrum befinden, kann in Mexico City eine Fahrt zum gewünschten Ziel per Taxi recht schwierig werden, wenn man sich selbst nicht wirklich auskennt. Das U-Bahnnetz ist für eine dermaßen große Stadt hingegen recht übersichtlich ausgefallen, weil man wohl irgendwann beschlossen hat, dass sich ein Ausbau nicht weiter rentiert. Oft ist man daher auf einen der vielen Busse angewiesen, die in Mexiko quasi das öffentliche Haupttransportmittel sind, wenn man hier irgendwo hinkommen will.
Eine sozusagen ordentliche Bushaltestelle mit Fahrplanaushang etc. kann man hier aber lange suchen und man merkt relativ schnell, dass die Busse einfach auf gewissen Stammstrecken fahren und dann stehen bleiben, wenn es dem Fahrer eben passt oder jemand gerade aus- oder einsteigen möchte. Auf den zwei bis drei auf die Windschutzscheibe geklebten Zetteln lässt sich meistens ungefähr erahnen, wo ein bestimmter Bus zumindest ganz am Schluss ankommen wird. Gleichzeitig muss man aber darauf achten, ob es nicht noch irgendwelche Feinheiten bei der aktuellen Strecke gibt, welche man an wichtigen Kreuzungen in der Regel von einem der vielen Ausrufer zugeschrien bekommt. Die Fahrertüre bleibt bei diesem Verkehrsmittel übrigens meistens den ganzen Tag offen, und wenn ein Bus so voll ist, dass man nur vorne am Einstieg mitfahren kann, stört das auch niemanden.
Das berühmte deutsche „zu ungenau“ ist wohl auch deswegen so negativ behaftet, weil es an diese Zeit im Schulunterricht erinnert, wo wir schon als Kinder gelernt haben, wie eine ordentliche Beschreibung auszuschauen hat. Und wenn ich mir heute die Menschen in gewissen europäischen Staaten ansehe, wie sie an ihren Haltestellen stehen und meist nach wenigen Minuten so dermaßen nervös werden, weil ihr Bus oder ihre U-Bahn nicht schon längst eingetroffen ist, wie von Fahrplan oder Anzeige prophezeit, dann frage ich mich, ob wir es uns nicht oft unnötig schwer machen mit unserer ganzen Zeiteinteilung.
Gibt man dem Lebensgefühl in Mexiko allerdings einfach einmal eine Chance, kann man sich auch die Frage stellen, ob „ungenau“ nicht oft auch einfach nur „unkompliziert“ bedeutet. Immerhin können einem die geschichtlichen Hintergründe einer Stadt ja auch komplett egal sein, wenn es einem dort gut gefällt. Und wie man eine Stadt oder eine U-Bahnstation bezeichnet bzw. warum, das ist im Grunde eigentlich ebenso unwichtig, solange es alles irgendwie funktioniert.
Und für mich ist es auch genau das, was Mexiko ausmacht und möglicherweise sogar typisch mexikanisch ist: Es läuft hier immer alles ein bisschen anders ab als erwartet, letzten Endes funktioniert aber doch alles irgendwie.
(Frederik Schuler)
Gewusst? 1939 bis 1939 herrschte zwischen Mexiko und Frankreich der sogenannte Kuchenkrieg – ausgelöst wurde dieser durch mexikanische Soldaten, die eine französische Bäckerei in der Nähe von Mexiko-Stadt plünderten. Mexiko gehört außerdem zu jenen Ländern weltweit, die die höchsten Raten an Fettleibigkeit verzeichnen. In Mexiko steht auf einen Ausbruch aus dem Gefängnis keine Strafe. Und mexikanischen Physikern gelang es, aus einer weißen Tequilasorte durch Verdampfung hauchdünne Diamantlagen herzustellen. Und tatsächlich ist Tequila das mexikanische Nationalgetränk, von dem mehr als 1.800 verschiedene Sorten erhältlich sind – sie alle gewinnt man in einem aufwendigen Produktionsprozess aus der Agave. Außerdem wird ein Tequila ausschließlich dann als Tequila bezeichnet, wenn er im Bundesstaat Jalisco produziert wurde. Auch eine der hässlichsten Hunderassen weltweit stammt aus Mexiko: Der Xoloitzcuintle – kurz: Xolo oder Mexikanischer Nackthund – wurde von den Azteken als irdischer Vertreter des Todesgottes „Xolotl“ erachtet und sie schrieben ihm heilende Fähigkeiten zu, heute lassen sich mit ihm aber wohl eher Wettbewerbe um den hässlichsten Hund gewinnen. Einer der wichtigsten Feiertage in Mexiko ist der „Día de Muertos“: Am Tag der Toten gedenkt man den Verstorbenen, die ihren Angehörigen einmal jährlich aus dem Jenseits besuchen sollen – das feiert man mit Musik, Tanz und kulinarischen Köstlichkeiten, Straßen werden dann mit Totenköpfen und Skeletten versehen und die Feiernden tragen ein passendes Make-up. Statt Trauer herrscht dann aber eine feierlich-fröhliche Stimmung. Apropos Feiern: Ein Kindergeburtstag ohne Piñata ist in Mexiko undenkbar – somit gibt es auch Shops, die nicht anderes als Piñatas und Süßigkeiten, um diese zu füllen, anbieten. Bei den heutigen Piñatas handelt es sich meist um bunte (Comic-)Figuren oder sie sollen an gewisse Politiker erinnern. Aber auch die traditionelle Piñata war mit Süßigkeiten gefüllt, allerdings handelt es sich dabei stets um eine Kugel mit sieben Spitzen, die für die sieben Todsünden stehen, und zerschlagen wird dabei symbolisch das Böse, während das herabfallende Zuckerwerk für den Segen steht, der auf alle fällt. Die traditionelle Werdenden Vätern des Huichol-Stamms in Mexiko bindet man übrigens während der Geburt ein Seil um den Hoden – daran darf die Gebärende ziehen, wenn die Wehenschmerzen ihren Höhepunkt erreichen.
Typisch mexikanisch! ist ein Auszug aus: