Überlegungen zu mehr Sicherheit auf deutschen Straßen
Die Ausgangslage: Was gilt derzeit?
In Deutschland ist gemäß §3 Abs. 3 StVO für Pkw außerhalb geschlossener Ortschaften eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h zulässig – sofern keine abweichende Beschilderung vorliegt. Diese Regel gilt auf sogenannten „außerörtlichen Straßen“, also klassischerweise Bundes- und Landstraßen mit nur einer Fahrbahn pro Richtung ohne bauliche Trennung. Für Gespanne und Lkw gelten niedrigere Höchstgeschwindigkeiten.
Im europäischen Vergleich fällt auf: In vielen Ländern gelten deutlich niedrigere Limits. In Schweden, Norwegen oder Irland liegt das allgemeine Tempolimit auf Landstraßen bei 80 km/h. Frankreich reduzierte 2018 probeweise auf 80 km/h – mit messbarem Effekt auf die Unfallzahlen.
Unfallrisiko Landstraße: Die gefährlichste Straßengattung Deutschlands
Die mit Abstand höchste Zahl tödlicher Unfälle in Deutschland ereignet sich nicht etwa auf der Autobahn, sondern auf Landstraßen. Laut Statistischem Bundesamt entfielen im Jahr 2023 rund 57 % aller Verkehrstoten auf außerörtliche Straßen ohne Autobahncharakter, obwohl nur rund ein Drittel des Verkehrsaufkommens dort stattfindet.
Zahlen im Detail (Statistisches Bundesamt, 2023):
- Verkehrstote insgesamt: 2.830
- Davon auf Landstraßen: 1.622
- Davon auf Autobahnen: 442
- Davon innerorts: 766
Besonders häufig sind Unfälle mit mehreren Toten bei Frontalzusammenstößen, etwa bei Überholmanövern auf Landstraßen ohne bauliche Trennung. Auch Alleinunfälle durch unangepasste Geschwindigkeit in Kurvenbereichen zählen zu den häufigsten tödlichen Szenarien.
Ursachen: Warum Landstraßen so gefährlich sind
- Überholmanöver bei Gegenverkehr: Viele Unfälle passieren bei riskanten Überholvorgängen, oft mit hohem Tempo und zu geringem Abstand.
- Fehlende Trennung der Fahrtrichtungen: Selbst ein kleiner Fahrfehler kann hier tödlich enden – im Gegensatz zur Autobahn mit ihren Leitplanken und getrennten Richtungsfahrbahnen.
- Straßenverlauf und Infrastruktur: Enge Kurven, wechselnde Fahrbahnbreiten und nicht ausreichend gesicherte Bäume am Straßenrand erhöhen das Risiko.
- Geschwindigkeit als Hauptfaktor: Bei einer Kollision mit 100 km/h auf freier Strecke wirkt das Auto wie ein Geschoss. Die Überlebenswahrscheinlichkeit sinkt drastisch.
Die Frage der Verhältnismäßigkeit
Tempo 100 ist ein pauschales Limit, das weder der Topographie der Strecke, noch Verkehrsaufkommen, Wetterbedingungen oder der realen Sicherheitssituation vor Ort gerecht wird. Moderne Fahrassistenzsysteme, bessere Fahrwerke und Bremsen lassen viele Autofahrer in falscher Sicherheit wiegen – während gleichzeitig Kleinwagen, Motorräder und Radfahrer in der Umgebung teils massiv gefährdet werden.
Ein argumentativer Kurzvergleich:
Argument | Pro Tempo 100 | Contra Tempo 100 |
---|---|---|
Fahrfluss | Schnelle Distanzen möglich | Führt zu aggressivem Verhalten bei Überholvorgängen |
Technik | Moderne Autos können sicher 100 km/h fahren | Technik kompensiert nicht menschliche Fehler |
Umwelt | Geringere Reisezeit → weniger Emissionen | Höhere Geschwindigkeit → mehr Verbrauch & CO₂ |
Sicherheit | Klarheit und Konstanz | In der Praxis häufig zu hoch angesetzt für realen Streckenzustand |
Europäische Vorbilder: Was andere Länder besser machen
Frankreich wagte 2018 den Schritt, das allgemeine Tempolimit auf Landstraßen ohne bauliche Trennung von 90 auf 80 km/h zu senken. Trotz Protesten zeigte sich: Im ersten Jahr nach Einführung sank die Zahl der Verkehrstoten auf diesen Strecken um rund 330 – ein Rückgang von 13 % (Quelle: ONISR, Frankreichs Verkehrssicherheitsbehörde).
Auch in Schweden ist Tempo 70 oder 80 auf Landstraßen der Regelfall – dafür wurde massiv in bauliche Trennung und Verkehrssicherheit investiert. Das Konzept „Vision Zero“ (keine Verkehrstoten) steht dort im Zentrum der Verkehrspolitik. Der Erfolg gibt dem Modell recht: Schweden gehört zu den sichersten Ländern im Straßenverkehr weltweit.
Umweltfaktor: Geschwindigkeit kostet Energie
Auch aus ökologischer Sicht ist Tempo 100 nicht optimal. Denn je höher das Tempo, desto überproportional höher ist der Kraftstoffverbrauch. Laut ADAC steigt der Verbrauch bei vielen Pkw zwischen 80 und 100 km/h um bis zu 20 %, bei SUVs teils noch mehr. Das hat nicht nur klimapolitische, sondern auch wirtschaftliche Konsequenzen – gerade angesichts hoher Kraftstoffpreise.
Ein Beispiel:
Tempo | Verbrauch (Beispiel-Kompaktklasse Benziner) | CO₂-Ausstoß (pro 100 km) |
---|---|---|
80 km/h | ca. 4,5 l | ca. 105 g/km |
100 km/h | ca. 5,5 l | ca. 130 g/km |
120 km/h | ca. 6,6 l | ca. 155 g/km |
Das Tempolimit beeinflusst also unmittelbar nicht nur die Sicherheit, sondern auch die Nachhaltigkeit.
Was wäre sinnvoll?
Ein generelles Herabsetzen der Höchstgeschwindigkeit auf 80 oder 90 km/h auf allen nicht getrennt geführten Außerortsstraßen ist eine Option. Doch sie müsste begleitet werden von intelligentem Verkehrsmanagement:
- Differenzierte Tempolimits je nach Streckenprofil, etwa durch digitale Schilder
- Mehr bauliche Maßnahmen: Leitplanken, Mitteltrennstreifen, Überholverbote
- Stärkere Kontrollen: Tempomessung, härtere Sanktionen bei Gefährdung
- Tempolimit für Motorräder in der Hochsaison: Besonders an beliebten Ausflugsstrecken mit hoher Unfallquote
- Kampagnen zur Sensibilisierung: Gerade auf dem Land fehlt oft das Bewusstsein für Risiko
Widerstände und Debatte
Der Widerstand gegen niedrigere Tempolimits ist erwartbar – besonders in ländlichen Regionen, wo Alternativen zum Auto fehlen. Auch die Automobillobby und Teile der Politik berufen sich auf Eigenverantwortung und Technikoptimismus.
Doch: Bei der Verkehrssicherheit geht es nicht um individuelle Freiheit, sondern um gemeinschaftliches Risiko. Die Erkenntnis, dass Tempo 100 nicht immer sicher ist, ist wissenschaftlich abgesichert. Nur politisch ist sie bislang nicht durchgesetzt.
Für mehr Sicherheit braucht es weniger Tempo
Tempo 100 auf Bundes- und Landstraßen mag aus der Zeit gefallen sein. Die Realität auf Deutschlands Nebenstraßen verlangt nach angepassten, modernen Konzepten – differenziert, sicherheitsorientiert und klimabewusst.
Ein generalisiertes Tempolimit von 80 oder 90 km/h auf nicht getrennt geführten Straßen wäre ein erster Schritt. Noch entscheidender aber ist eine umfassende Strategie: mit baulichen Maßnahmen, digitaler Verkehrssteuerung und einem Kulturwandel im Fahrverhalten. Nur so lässt sich die Zahl der Unfalltoten auf deutschen Landstraßen nachhaltig senken – und der Straßenverkehr zu dem machen, was er sein sollte: sicher, effizient und fair für alle Verkehrsteilnehmer.
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