Doch dagegen gibt es ein bewährtes Mittel – spätestens seit Immanuel Kant (1724–1804) wissen wir schließlich: „Reisen bildet!“. Es ist, wie Mark Twain (1835–1910) sogar meint, „tödlich für Vorurteile!“ Aber selbst in unseren modernen Zeiten der fortschreitenden Globalisierung und hoch entwickelten Mobilität ist es nahezu unmöglich, sich überall auf der Erde aus eigener An- schauung ein verlässliches Bild von den Verhältnissen vor Ort zu machen.
Auch wenn der Trend zur „Weltreise“ sich seit Jahren immer mehr verstärkt, haben diese „Weltenbummler“ am Ende einer noch so langen Reise meist doch „nur“ eine begrenzte Anzahl von Ländern auf allen Kontinenten besucht. Und wie lautet das Fazit in Bezug auf Vorurteile und Länderklischees am Ende einer solchen Weltumrundung? Haben sich diese alle in Luft aufgelöst – oder (teilweise) sogar bestätigt?
In Zeiten einer den öffentlichen Diskurs dominierenden Political Correctness sind Vorurteile im Sinne von Ressentiments jedenfalls mit eindeutig negativen Konnotationen belegt und gelten generell als verwerflich. Dabei wird häufig übersehen, dass diese Vorurteile unser gesamtes Leben leiten. Sie sind in vielen Fällen hilfreich und erfüllen den psychologischen oder auch existenziellen Sinn, uns beispielsweise vor Gefahren zu schützen.
Ohne gewisse Vorurteile könnten wir – bezogen auf das Reisen – „nicht einmal unsere Koffer packen“, meinte Sir Peter Ustinov (1921–2004), ein Kosmopolit und vielgereister Allroundkünstler, in seinem Buch Achtung! Vorurteile (Reinbek, 2005). Doch dabei dürfe es natürlich nicht bleiben. Der Rivale des Vorurteils sei der Zweifel, die Bereitschaft, das eigene, oft vorschnell gefällte Urteil kritisch – am besten „vor Ort“ – zu hinterfragen.
Wenn es um „fremde Länder“ geht, tragen wir – aus dem Prozess unserer ganz persönlichen, aber auch zeit- und kulturspezifischen Sozialisation – bestimmte Länderklischees, oft auch unbewusst, als Vorurteile mit uns herum. An diesen halten wir gerne hartnäckig fest und geben sie nur mühsam auf, häufig erst auf der Basis entgegengesetzter eigener Erfahrungen im betroffenen Land, beispielsweise mit uns sympathisch gewordenen Einheimischen.
Andererseits kommt es auch vor, dass sich einige dieser Klischees anhand eigenen Erlebens im Ausland bestätigen, man diese dann aber relativieren oder auch besser verstehen und einschätzen kann. Und außerdem kann es pas- sieren, dass man bei einem Auslandsaufenthalt plötzlich feststellt, dass man sich ja selbst seinem eigenen Länderklischee entsprechend verhält: wenn man etwa als Deutsche in Rom stets bei der roten Ampel stoppt oder vehement auf Pünktlichkeit achtet – auch wenn das zu Hause längst nicht immer der Fall ist.
Womit hat das zu tun? In der Heimat bemerken die meisten die eigenen kulturellen Werte und Normen überhaupt nicht. Das geschieht erst, wenn diese anders sind. Und dann besinnen sich viele verstärkt auf die Werte und Normen der heimatlichen Kultur. Der Begriff dazu lautet Selbststereotypisierung. Diese hilft den Menschen, sich selbst dessen zu versichern, wer sie sind. Man könnte auch sagen: Manche verhalten sich erst fern der Heimat so richtig klischeehaft – zu Hause würden sie sich nicht einmal ansatzweise als, um bei diesem Beispiel zu bleiben, typisch deutsch bezeichnen.
Erst mit anderen Normen und Werten konfrontiert, offenbart sich oft, was man selbst für normal und selbstverständlich hält und was womöglich nur für die eigene Kulturgruppe gilt. Und dabei zeigt sich, dass man sich selbst eben auch so verhält, wie es für diese Gruppe typisch ist – während die anderen in bestimmten Situationen eben typisch für ihre Kultur handeln.
Denn eines ist klar: Die Klischees sind nicht ganz zufällig, „sie sind in einer bestimmten Konstellation von der Realität abgenommen worden und sind nicht zuletzt deshalb so widerstandsfähig, weil selten bestritten werden kann, dass noch immer ‚etwas Richtiges dran‘ ist“ (Hermann Bausinger, Typisch deutsch, München, 2000, S. 8). So wird ein an Pünktlichkeit orientierter Deutscher in Spanien, Mexiko oder Albanien wiederholt die Erfahrung machen, dass es eben kein dummes Vorurteil oder Klischee ist: Die Menschen dort haben nämlich wirklich einen ganz anderen Begriff von „Zeitverabredung“, als es die Deutschen in der Regel gewohnt sind.
Wer hier auf eine strikte Einhaltung von Terminen insistiert, wird damit in Ländern wie Spanien (und da gibt es erstaunlich viele!) nicht glücklich werden und sich bei etlichen Menschen unbeliebt machen. Und wer glaubt, dass „Siesta“ nur ein böswilliger Mythos bornierter Zentraleuropäer sei, wird in Mittelmeerländern (nach-)mittags oft buchstäblich vor verschlossenen Türen stehen.
Hat man aber schließlich die klimatischen Verhältnisse in den südeuropäischen Ländern am eigenen Leibe erfahren und erlitten, weiß man, dass eine solche Siesta-Pause zur Sommerzeit durchaus vernünftig sein kann. Wer „Siesta“ aber mit „typisch südländischer Faulheit oder Bequemlichkeit“ gleichsetzt, der hat nicht begriffen oder erfahren, dass Arbeitstage in diesen Ländern oft bis in den späten Abend reichen – bis in Stunden, die man in der Heimat meist schon lange der Freizeit widmet. Oft haben typische Verhaltensweisen, die einem (vermeintlichen) Klischee entsprechen, doch einen guten Grund. Auch das ist ein Merkmal, das bei einem klischeehaften Denken häufig nicht berücksichtigt wird.
Anhand dieser konkreten Beispiele wird jedenfalls der ambivalente Charakter von Länderklischees deutlich: Sie haben eben mitunter durchaus ihre Berechtigung. Doch sollten sie immer wieder auf Gültigkeit und Wahrhaftigkeit überprüft werden – am besten auf einer Reise in das betroffene Land –auch wenn „das Typische“ nicht in allen Gebieten und Lebensbereichen gleichermaßen deutlich in Erscheinung tritt. Und bei so manchem zutreffenden Klischee muss man andere Annahmen unbedingt unterlassen: So mögen Menschen aus anderen Kulturen wirklich ein anderes Verständnis von Pünktlichkeit aufweisen – deshalb darf man sich aber nicht dazu verleiten lassen, diese fälschlich als generell unzuverlässig abzustempeln. Stattdessen empfiehlt es sich, sich bewusst zu machen, dass man selbst eben einfach über eine gewisse, in diesem Fallbeispiel deutsche, Haltung zur Pünktlichkeit verfügt – und sich generell in Gelassenheit zu üben, was ja nicht nur auf Reisen, sondern überhaupt im Leben empfehlenswert ist.
So ganz kann sich ohnehin kein Mensch von Stereotypen und Klischees und dem damit verbundenen Denken und Handeln lösen: Klischees strukturieren schließlich auch unser Denken und Verhalten; es ist uns kognitiv gar nicht möglich, jede einzelne soziale Information über einen Menschen ohne Schubladendenken zu verarbeiten. Stereotypen und Klischees sind gewöhnliche Prozesse bei der Verarbeitung von Informationen. Und manche Klischees über ein Land bewahrheiten sich wie erwähnt auf die eine oder andere Weise eben tatsächlich. Dabei ist es ja gerade auch das Kennenlernen einer anderen Lebensart und Mentalität, die Reisen in fremde Länder so spannend und gewissermaßen auch Klischees bereichernd macht.
Generell scheint jedenfalls ein großes öffentliches und auch privates Interesse an den gängigen Länderklischees zu bestehen: Seiten im Internet, die sich mit „typischen Eigenschaften“ bestimmter Nationalitäten beschäftigen, erfreuen sich nämlich nachhaltig großer Beliebtheit und werden häufig aufgerufen. Am meisten gesucht wird dabei klassischerweise „typisch englisch“, gefolgt von „typisch französisch“, „typisch italienisch“ und „typisch (US-)amerikanisch“. Doch auch kleinere oder exotische Nationen wie Ungarn bzw. Indien werden gerne auf ihre (vermeintlichen) Ländercharakteristika überprüft.
Mehr zu dem Thema finden Sie in dem Buch Alle Iren haben rote Haare – Länderklischees und die Wirklichkeit, Tb 290 Seiten, 13,80€, ISBN 978-3947334384, auch als E-Book für 7,99€ erhältlich.