Vom Sinn des Gehens – Pilger, Sühner, Ausreißer
Wenn jemand im Mittelalter seine Schuhe schnürte – sofern er welche hatte –, dann meist nicht zur Erholung. Vielmehr ging es um Buße, Rettung, Schwur oder das nackte Überleben. Die Wege nach Santiago de Compostela oder Rom waren keine spirituellen Wellnesspfade, sondern gefährliche Selbstversuche. Der Pilger war nicht Tourist, sondern Bittsteller – bei Gott, bei sich selbst, bei der Gesellschaft.
Und doch war der Pilger nicht allein. Ein ganzer religiöser Reisebetrieb entstand: Klöster als Herbergen, Städte als Durchgangspunkte, Reliquien als touristische Magneten. Die Jakobsmuschel am Mantel wurde zur frühen Form des Reisepasses – weithin sichtbar, halb Schutzzeichen, halb Symbol der Entblößung. Wer sie trug, hatte nichts – aber viel vor.
Die Händlerkarawane: Europa in Säcken
Ganz anders die reisenden Kaufleute. Sie waren keine Bußgänger, sondern Pragmatiker. Von Lübeck nach Brügge, von Augsburg nach Venedig, von Nürnberg nach Krakau: Die alten Fernstraßen waren pulsierende Lebensadern – wenn auch verstopft, schlammig und unsicher. Man reiste in Gruppen, mit Tross, Knechten, und möglichst bewaffnet. Denn der Gewinn wartete am Ziel, nicht am Weg.
Und dieser Gewinn konnte beträchtlich sein. Ein Händler mit guten Kontakten verdiente mehr in einem Jahr als ein Handwerker in einem Leben. Vorausgesetzt, er kam an. Das Risiko war einkalkuliert – durch Geleitsbriefe, Wegzölle, Notfallfonds. Wer es sich leisten konnte, reiste mit Vorhänden gegen Räuber – eine mittelalterliche Form der Versicherung.
Die Ritter ziehen gen Osten – oder ins nächste Turnier
Die Bewegung des Adels hatte ihre eigene Logik. Wer sich als Ritter sah, war qua Stand zur Mobilität verpflichtet – sei es im Dienst des Königs, des Kreuzes oder des eigenen Ruhms. Dabei glich der Aufbruch eher einem Prestigeakt als einer Reise im bürgerlichen Sinn. Man zog mit Gefolge, Zelten, Waffen und Pferden los, um entweder Ruhm zu ernten oder glorreich zu scheitern.
Besonders in den Kreuzzügen offenbarte sich das ganze Spektrum des mittelalterlichen Reisens: Euphorie, Ideologie, Gewalt, Tod. Zehntausende verließen ihre Heimat mit der vagen Hoffnung auf das Himmelreich – und fanden oft nur den Tod in Anatolien. Was blieb, war eine neue Art, die Welt zu sehen: fremd, feindlich, faszinierend.
Reiseinfrastruktur: Dreck, Diebe, Dämmerung
Die Wege selbst waren kein Ort der Romantik. Wer von einem „Wegenetz“ spricht, meint eher ein loses System von Himmelsrichtungen, regionalem Wissen und mündlichen Überlieferungen. Es gab keine Karten für Fußgänger, keine einheitlichen Maße, keine Grenzschilder. Dafür gab es Fuhrleute mit Ortskenntnis, Klöster als Informationszentren und Wirtshäuser, die nicht selten auch als Fallen dienten.
Die Tagesleistung lag je nach Witterung bei 25 bis 40 Kilometern, wenn man gut zu Fuß war. Frauen reisten meist in Gruppen oder gar nicht, Kinder nur im Rahmen familiärer Aufbrüche. Krankheiten, Räuber, Brückenzölle, Pannen – all das war nicht Ausnahme, sondern Normalzustand. Der Unterschied zur heutigen Reiseerfahrung ist nicht der Komfort, sondern der Umgang mit dem Risiko. Damals reiste man mit dem Tod als Mitläufer.
Schreiben gegen das Vergessen – Reiseberichte und Erinnerung
Trotz aller Mühsal: Das Mittelalter hat uns zahlreiche Reiseberichte hinterlassen. Manche realistisch, andere fabuliert, fast alle geprägt vom Staunen. Ob Marco Polo über die Mongolen schrieb oder der deutsche Ritter Arnold von Harff seine Wallfahrt ins Heilige Land in lateinischen Versen verewigte – Reisen bedeutete Transformation. Wer zurückkam, war nicht mehr derselbe.
Diese Texte dienten der Belehrung, der Unterhaltung, der Selbstvergewisserung. Und manchmal auch dem Zweck, zu zeigen, dass man es wirklich erlebt hatte. Denn der Verdacht der Lüge war immer präsent. Schon im 14. Jahrhundert war der Voyeurismus der Daheimgebliebenen ein Markt.
Keine Nostalgie – aber Respekt
Wer heute mit Hightech-Sandalen den Jakobsweg beschreitet oder auf mittelalterlichen Handelsrouten wandelt, erlebt bestenfalls ein Echo jener Erfahrungen. Die Welt des Mittelalters war nicht romantisch, sondern existentiell. Ihre Reisenden hatten keine Wahl – und gerade deshalb verdienen sie unser Interesse. Nicht, weil wir sie beneiden sollten, sondern weil ihr Mut zum Aufbruch unter Bedingungen stattfand, die uns längst fremd geworden sind.
Reisen im Mittelalter war kein Eskapismus, sondern Konfrontation: mit der Fremde, dem Ich, dem Tod. Es war das Gegenteil von Urlaub. Aber vielleicht war es genau deshalb so wirksam.
Das Buch zum Thema:
Anthony Bale, Reisen im Mittelalter: Unterwegs mit Pilgern, Rittern, Abenteurern