Was ist Reisesucht? – Eine Definition
Reisesucht beschreibt ein zwanghaftes, übersteigertes Bedürfnis, ständig zu verreisen, ohne sich dauerhaft an einem Ort niederlassen zu können oder zu wollen. Der Rückzug ins „normale Leben“ fällt schwer. Der Zyklus wiederholt sich: Reise, Rückkehr, Leeregefühl, neue Reiseplanung. Die Betroffenen empfinden nur unterwegs ein Gefühl von Lebendigkeit und Sinn – ein Zustand, der das soziale, berufliche und finanzielle Leben zunehmend beeinträchtigen kann.
Der Begriff „Dromomanie“ wurde erstmals im 19. Jahrhundert vom französischen Psychiater Philippe Tissié eingeführt und galt damals als Teil der „Wandersucht“ (fugue disorder). Heutige Ausprägungen zeigen sich oft subtiler – beeinflusst durch Globalisierung, Social Media und ein gesellschaftlich idealisiertes Bild des „digitalen Nomaden“.
Typische Symptome: Zwischen Rastlosigkeit und Rückzugsverhalten
Folgende Anzeichen können auf eine problematische Reisefixierung hindeuten:
- Zwanghafte Reiseplanung: Die nächste Reise ist stets in Vorbereitung, oft noch während die aktuelle läuft.
- Innere Unruhe in Pausenphasen: Der Alltag erscheint bedeutungslos, träge oder sogar bedrückend.
- Emotionale Abstürze nach Rückkehr: Symptome reichen von Gereiztheit bis zu depressiven Verstimmungen.
- Vernachlässigung sozialer oder beruflicher Verpflichtungen: Jobwechsel, Beziehungsabbrüche oder Schulden können die Folge sein.
- Fluchtmotive: Reisen dient weniger der Freude als der Vermeidung unangenehmer Realitäten.
Ein konkretes Fallbeispiel: Eine 36-jährige Unternehmensberaterin berichtet in einem Reiseblog, dass sie in sechs Jahren über 70 Länder bereiste – oft spontan, ohne Rücksicht auf ihre Beziehung oder ihren Job. Erst eine Panikattacke am Flughafen brachte sie dazu, psychologische Hilfe zu suchen.
Mögliche Ursachen: Eskapismus, Selbstsuche, soziale Bestätigung
Die Gründe für Reisesucht sind komplex und oft tief verwurzelt. Häufige Auslöser sind:
- Unzufriedenheit mit dem Alltag: Monotonie, Überforderung oder soziale Isolation.
- Identitätssuche: Reisen als Möglichkeit zur Selbstinszenierung oder Selbstfindung.
- Verstärkende Umweltreize: Influencer, Reisevlogs und Statussymbole fördern das Gefühl, etwas zu verpassen („FOMO“ – Fear of Missing Out).
- Belohnungsmechanismen: Neue Eindrücke setzen Dopamin frei, was zu einem Suchtkreislauf führen kann.
Dabei kann das ständige Reisen auch zur Überforderung werden – Stichwort „Reisemüdigkeit“ (travel fatigue), bei der der eigentlich ersehnte Tapetenwechsel nur noch Erschöpfung erzeugt.
Keine Diagnose, aber reale Auswirkungen
Reisesucht ist derzeit nicht als eigenständige Störung im ICD-11 oder DSM-5 klassifiziert. Dennoch erkennen Psychologen Parallelen zu substanzunabhängigen Suchterkrankungen wie der Kaufsucht oder der Internetsucht.
Ein Bericht der American Psychological Association (APA) aus dem Jahr 2023 stellte fest, dass rund 8 % der Vielreisenden (mehr als 8 internationale Reisen pro Jahr) Symptome zeigten, die mit suchtähnlichem Verhalten vergleichbar seien – darunter Kontrollverlust, Toleranzbildung und Rückzug aus dem sozialen Umfeld.
Was tun, wenn Reisen zur Flucht wird?
Ein erster Schritt ist die bewusste Reflexion: Dient die nächste Reise der Freude – oder der Vermeidung? Wer sich regelmäßig überfordert fühlt, sein Budget überzieht oder soziale Konflikte durch Abwesenheit „löst“, sollte sein Verhalten prüfen. Hilfreich können sein:
- Selbstbeobachtungstagebücher
- Gespräche mit Vertrauenspersonen oder Partnern
- Psychologische Beratung oder Verhaltenstherapie
- Digital Detox und Reisepausen
Eine systemische Therapie kann zudem helfen, tieferliegende Bedürfnisse zu identifizieren, etwa nach Anerkennung, Sinn oder Sicherheit – und alternative Wege zu entwickeln, diese im Alltag zu stillen.
Reisen als Bereicherung – nicht als Zwang
Reisen ist und bleibt eine wertvolle Erfahrung – wenn es mit Maß und Bewusstsein geschieht. Auch der Alltag bietet Raum für Entdeckung: neue Hobbys, Wochenendtrips, ehrenamtliche Tätigkeiten oder Kulturveranstaltungen. Wer sich regelmäßig neue Perspektiven schafft, braucht nicht ständig in die Ferne zu schweifen, um sich lebendig zu fühlen.
Denn: Die Fähigkeit, das Nahe zu schätzen, ist oft der beste Schutz vor dem Zwang, ständig woanders sein zu müssen.