Die Nats und andere Glaubensvorstellungen

An dieser Stelle scheint es mir geboten, einen kurzen Blick auf andere Glaubensvorstellungen zu werfen, die in Burma neben dem Buddhismus existieren. Das Besondere an der Religiosität der burmesischen Laien ist die Vermischung der Lehren des Buddha mit einem althergebrachten Geisterkult, der Nat-Verehrung, und einem Glauben an das Übernatürliche, der psychische und magische Phänomene einschließt. Diese letzten finden ihren Ausdruck in Amuletten, Tätowierungen, Zaubersprüchen und einem ganzen Sortiment symbolischer Kleinigkeiten, mit denen fliegende Händler auf den Vorplätzen und im Inneren der Tempel gute Geschäfte machen. Die heiligen Stätten werden von Wahrsagern, Propheten, Hellsehern, Wunderheilern und Spiritisten aller Art geradezu belagert.
Die Nats gehen auf eine Tradition animistischer Glaubensvorstellungen zurück, die es in Burma schon lange gab, als die Lehren des Buddha ihren Einzug hielten. König Anawrahta, der Begründer des ersten Myanmar-Reiches vor nahezu tausend Jahren, erklärte siebenunddreißig Nats zum untergeordneten Gefolge des erleuchteten Buddha und verleibte sie somit offiziell dem burmesischen Buddhismus ein.
Die Nats, Dämonen und Geister von längerer Lebensdauer als die Menschen, richten Unheil und Schaden an, wenn sie nicht gebührend verehrt und durch Gaben – Blumen, Geld oder Nahrung – auf den ihnen gewidmeten Altären besänftigt werden. Wohlgesonnen, können sie in Zeiten der Not aber auch um Beistand angerufen werden. Der König der Nats ist ein Naturgeist, der viele Gemeinsamkeiten mit dem Gott Indra der hinduistischen Mythologie aufweist. Um jeden Nat rankt sich eine tragische Erzählung, die irgendwie mit der Geschichte des Landes in Verbindung steht, und zusammen bilden diese Erzählungen die Grundlage der burmesischen Legenden, Mythen und Dramen. Der Mount Popa, ein alleinstehender, hoch aufragender Felsen bei Bagan, gilt als die Heimstätte der Nats. Wir werden diesem wichtigsten Ort der Nat-Verehrung in meinem Bericht über die Wunderwelt Bagan im zweiten Teil dieses Buches begegnen.

Kehren wir nun zum Hauptthema dieses Kapitels zurück. Der gläubige burmesische Buddhist, der eine besseren Wiedergeburt anstrebt, bemüht sich in erster Linie, die fünf Grundregeln oder Gebote der buddhistischen Moral zu achten. Ihnen zufolge darf er

• kein Lebewesen töten,
• nicht stehlen,
• nicht lügen,
• keinen Ehebruch begehen,
• und keinen Alkohol trinken.

Aber damit nicht genug. Zum Zeichen der Verehrung rezitiert er dreimal täglich eine feierliche Formel, nimmt sich Zeit zum Beten und legt zu Hause auf dem Familienschrein oder in der Pagode eine Gabe nieder. In Gebetshallen und Tempeln halten die Mönche langwierige Zeremonien ab, und oft schallt ihr Gesang, verstärkt durch den ihrer Gefolgschaft (überwiegend Frauen), von großen Lautsprechern getragen über beträchtliche Entfernungen. Außer diesen frommen Übungen wird jeder Buddhist zur Meditation angehalten, sei es allein oder in Gemeinschaftszentren. Die überzeugten burmesischen Buddhisten glauben an folgende Vier Edlen Wahrheiten:

• Leben birgt immer ein Element des Leidens;
• der Ursprung des Leidens ist der „Durst” der Begierde;
• das Ende des Leidens erfolgt durch Überwindung aller Begierden und weltlichen Bindungen;
• der Weg zu diesem Ziel ist der Achtfache Pfad des edlen Handelns.

Der Achtfache Pfad gliedert sich in drei Abschnitte mit insgesamt acht Anweisungen zum rechten Handeln:


Weisheit
• rechte Erkenntnis,
• rechte Gesinnung.


Sittlichkeit
• rechte Rede,
• rechte Tat,
• rechter Lebenserwerb.

Innere Sammlung

• rechtes Streben,
• rechte Achtsamkeit,
• rechte Versenkung.

Der sicherste Weg, bei der Wiedergeburt ein besseres Leben zu erlangen, besteht nach Auffassung eines Theravada-Buddhisten darin, die Fünf Gebote einzuhalten, an die Vier Edlen Wahrheiten zu glauben, die acht Anweisungen zum rechten Handeln zu befolgen und, ebenso wichtig, Verdienste zu erwerben. Die Burmesen sind großzügige Spender, aber sie unterstützen lieber buddhistische als weltliche Wohltätigkeitszwecke, weil die buddhistischen Gaben als Verdienste in ein goldenes Buch eingetragen werden, das von himmlischen Wesen gehütet wird. Oft werden Verdienste mit anderen geteilt und können sogar übertragen werden.
Die wertvollste Tat, die den höchsten Verdienst einbringt, besteht darin, Mönch zu werden oder den Mönchen Almosen zu geben, aber auch durch Beten, Meditation, Wallfahrten, Predigten halten oder Predigten hören, durch Respektsbezeigungen gegenüber Älteren und die Bereitschaft, zu teilen, kann man Verdienste erwerben. Der fromme und pflichtbewußte Sohn wird Verdienste auf seine Eltern übertragen. Verdienste anzuhäufen ist von so großer Bedeutung, daß mächtige Führer und lasterhafte Individuen (einschließlich War Lords und Drogenbarone) plötzlich in übereifrige Religiosität und Freigebigkeit verfallen, um mit diesen Werken in das goldene Buch einzugehen und sich für die Zukunft ein besseres Leben zu sichern. Ein prominentes Beispiel dafür liefert Ne Win, der in Yangon gegenüber der berühmten Shwedagon Pagode unter großem Aufwand eine kostspielige neue Pagode errichten ließ.
Zu den schlechten Taten, die ebenfalls aufgezeichnet werden, gehören Verstöße gegen die Fünf Gebote – wobei sogar das Töten eines einzigen Moskitos einen solchen Verstoß bedeutet. Mein Reiseführer Min Min, dem wir in Teil 3 ausführlicher begegnen werden, half mir mit äußerster Gewissenhaftigkeit, jedes Ausmerzen von Insekten in unserem Eisenbahnwagen zu vermeiden, und verbrachte viel Zeit damit, sie lebendig durch das Fenster nach draußen zu befördern.

 

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