"Der Fluch" von Nay Win Myint

Wenn man am frühen Nachmittag von Westen her die Rufe der Moun Le’hsaung-Verkäuferin hörte, pflegte Tante Mai Gyote geschäftig angelaufen zu kommen, sich auf die Bank vor unserem Haus zu setzen und, nachdem sie das Handtuch von ihrem Kopf gezogen hatte, ausgiebig atemlos zu japsen und zu schnaufen. Sie traf immer gleichzeitig mit der Moun Le’hsaung Verkäuferin, Frau Mya Sein, ein.
Diese erschien meist mittags gegen zwei Uhr in unserer Straße. Von dort hörte man dann ihre langgezogenen Rufe: „Trrrrrrrrrinken Sie noch ein Glas, Familie Khin Hla, Familie Mya Khin, trrrrrinken Sie noch …!“, und Mutter rief: „He, kommen Sie mal hier rüber!“. Tatsächlich sprach Mutter die Verkäuferin nicht an, weil sie Moun Le’hsaung trinken wollte. Für sich selbst hatte sie diese noch nie herangerufen. Auch rief sie die Verkäuferin nicht, weil sie uns Kindern Moun Le’hsaung spendieren wollte, sondern um Tante Mai Gyote ein Glas anzubieten. Für uns war es egal, für wen Mutter die Verkäuferin rief; sicher war, dass wir auch etwas bekommen würden. So hofften und warteten wir auf Tante Mai Gyote. Wenn sie einmal nicht kam – sei es, weil sie eingeschlafen war oder weil es ihr nicht gut ging – konnte die Verkäuferin so viel rufen, wie sie wollte, Mutter beachtete sie nicht. Also hofften wir, wenn wir die Moun Le’hsaung-Rufe hörten, und beteten: „Bitte, lass doch diese Tante wiederkommen!“ Anfangs dachte ich, Mutter würde Tante Mai Gyote immer Moun Le’hsaung anbieten, weil sie diese so gerne mochte. Und weil sie so alt und weise war. Erst später erkannte ich, dass dem keineswegs so war. Sie tat es, weil sie Angst vor Tante Mai Gyote hatte, weil sie fürchtete, dass diese uns sonst mit einem Fluch belegen würde. Tante Mai Gyote ist nämlich eine Hexe.
Nicht dass Mutter es gewagt hätte, dies offen auszusprechen. Aber der Mann meiner Tante, Onkel Khin, redete einmal darüber, als er Schnaps getrunken hatte: „Deine Mutter und deine Tante, die fürchten sich vor dieser alten Hexe, deshalb spendieren sie ihr jeden Tag Moun Le’hsaung, geben ihr von unserem Essen, kaufen ihr Teesalat, Erdnüsse und Sesam“, sagte er. Als ich abends Mutter darauf ansprechen wollte, ließ sie meine Fragen nicht einmal zu. Mit aufgerissenen Augen und verstörtem Gesicht sagte sie nur: „Mögen goldene Worte von goldenen Ohren, silberne Worte von silbernen Ohren vernommen werden! Mögen deine Worte vom Wald verschluckt werden und wir vor Unglück bewahrt bleiben! “

Was das nun wieder heißen sollte… Ein Eingeständnis war es nicht. Aber geleugnet hatte sie es auch nicht. Keine Ahnung, ob da nun was dran war. Immerhin ging soviel Geld ja auch nicht drauf, wenn Mutter etwas Moun Le’hsaung ausgab. Damals kostete das Glas selbst mit Palmsirup und Kokosraspel nur 20 Pya. Macht ja nichts, soll sie es nur trinken. Aber nicht nur Mutter, auch die Moun Le’hsaung-Verkäuferin schien Tante Mai Gyote zu fürchten. Wenn sie vor unserem Haus ankam und Tante Mai Gyote bei Mutter antraf, wiederholte sie immer wieder: „Bitteschön, trinken Sie noch, bitteschön!“, und das Lächeln in ihrem Gesicht war so süß, dass selbst der Palmsirup in ihrem Topf hätte neidisch werden können. Aber sie ließ nicht zu, dass Tante Mai Gyote ihre Töpfe berührte, stellte sie in sicherem Abstand ab, mischte das Moun Le’hsaung, gab einen Löffel ins Glas und brachte es ihr voller Respekt. Wenn meine Mutter dann bezahlen wollte, sagte die Verkäuferin immer: „Das Glas für Tante Mai Gyote brauchen Sie aber nicht zu bezahlen. Das ist ein Geschenk von mir.“ Aber Mutter gab nicht nach: „Nein, ich wollte es ihr doch ausgeben. Ich bezahle das.“ Und so stritten sie, wer nun das 20 Pya teure Geschenk machen dürfte. Mutter bestand immer darauf zu bezahlen. Sie machte sich ja solche Sorgen, dass Tante Mai Gyote einen Groll gegen sie hegen könnte.

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