"Die Nacht im Kanal" von Zeyya Linn
„Ich will nichts mehr essen, Mama. Ich bin schon satt.“
Die Mutter strich ihm über den Kopf. „Das ist doch nicht so schlimm, Kindchen. Kühe sind eben so. Die sind so dumm. Die fallen dauernd irgendwo rein.“ Als Mutter nicht weiter redete, sah er sie fragend an. „Wenn sie die erst mal rausgezogen haben, ist nach ein, zwei Tagen alles wieder in Ordnung.“
„Warum holt man sie dann nicht raus, Mama? Lass uns hingehen, wir ziehen sie zusammen raus!“
Als Mutter den Blick abwandte, war er ihr ein bisschen böse. Sie stellte die Teller übereinander und sagte, ohne ihn anzusehen: „Das würden wir doch nie schaffen, Kindchen… Los, geh’ dir den Mund waschen, und dann machen wir zusammen die Mathe-Aufgaben.“
Im nächsten Augenblick fuhr ein langgezogener Laut in sein Herz.
„Muuuhh“. Darauf hatte er gewartet.
„Oh! Hörst du, Mama? Sie ist doch noch nicht tot!“ Als ihm dieser Freudenschrei entfuhr, bekam er einen Schreck, weil Vater es vielleicht gehört haben könnte.
„Die stirbt doch nicht. Du bist mir einer… Los, geh’ dir die Hände waschen, und dann ab nach vorne.“
„Die arme Kuh, nicht wahr Mama?“
Die Mutter brachte, ohne etwas zu erwidern, die Teller in die Küche. Vorn im Haus lag Vater in seinem Liegestuhl und las. Auf Vaters Gesicht spiegelten sich die Farben des Gemäldes an der Wand wider. Eine winzig kleine Shwedagon Pagode leuchtete blassgelb auf seinem Gesicht. Vater sah auf, warf ihm einen kurzen Blick zu und las dann weiter. Wenn er las, wollte Vater nicht gestört werden. Am liebsten hätte er Vater gebeten, zusammen zum Kanal zu gehen und nach der Kuh zu schauen. Er wusste ja nicht einmal, welche Farbe sie hatte. Ob ihre Hörner noch ganz klein waren oder schon groß? Ob es ein Bulle war oder eine Kuh? Woher sie kam, und ob ihr Besitzer nichts mitbekommen hatte? Aber er traute sich nicht, Vater zu stören. Sicher würde er wieder laut werden. Er ging am Vater vorbei auf die Veranda vor dem Haus.
„Muuuhh“.
Es war, als ob sein Körper einen Schlag erhalten hätte. Das Eisengeländer der Veranda umfassend, sah er angestrengt in die Richtung, aus der das Muhen gekommen war. Die Sonne war schon untergegangen, und die Straßenlaternen waren an. Autos und von Menschen überquellende Busse fuhren vorbei. Eine Traube von Kindern und drei, vier Erwachsenen standen da und sahen in den Kanal hinunter. Als ein Junge einen Stein hineinwarf, hörte man wieder ein
„Muuuhh“.
„Papa, Papa!“, entfuhr es ihm laut, und sofort erschrak er wieder. Vater las doch. Gleich würde er ihn anschreien. Er wurde innerlich ganz klein. Ängstlich sah er zum Vater hin. Der hob den Kopf und fragte in strengem Ton: „Was ist los?“ Die Augen hinter Vaters Brille verrieten, dass er gleich böse werden würde.
Sein Vorhaben war damit hinfällig geworden. Gerade in dem Moment, als er daran gedacht hatte, Vater ganz ruhig und höflich zu fragen, ob er mit ihm zusammen hingehen und ihm die Kuh zeigen würde, weil er sich allein nicht traute, war ihm der Schrei entfahren.
„Hast du keine Hausaufgaben auf? Was treibst du da eigentlich?“
„Die mach’ ich gleich mit Mama zusammen, wenn sie mit dem Abwasch fertig ist, Papa.“
„Verschwende keine Zeit! Mach sie jetzt sofort. Oder soll ich dich gleich auch in den Kanal schmeißen?“
Er erwiderte nichts und ging mit gesenktem Kopf seine Schultasche holen. In der Küche hörte man Mutter abwaschen.
„Muuuhh“.
Im Geist buchstabierte er das englische Wort: si ou double-yu – cow. Die arme Kuh tat ihm leid.
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