Was ist typisch chinesisch? *
Das ist schwer zu sagen, denn China lässt sich in keine Schublade stecken. Es gibt viele unterschiedliche Chinabilder, angesichts der Größe des Landes und der Reiseziele wird jedes Chinabild variieren. Mein Chinabild konnte ich jedenfalls während zweier Jahre vor Ort auf dem Campus der Universität Ningbo (Provinz Zhejiang), auf Reisen durch das ganze Land, bei Homestays und darüber hinaus entwickeln. Es ist ein sehr privates Chinabild, das auf dem Kontakt mit chinesischen Menschen – besonders mit jungen Leuten basiert – und in die Jahre 2009–11, 2012 und 2017 fällt. Den oftmals negativen Chinadarstellungen, wie sie in den deutschen Medien vermittelt werden, möchte ich widersprechen. Da redet man von fehlenden Menschenrechten, ausgebeuteten Wanderarbeitern, unterdrückten Minderheiten, nicht vorhandenen individuellen Freiheiten … oder vom Bau einer neuen Weltordnung, die chinesischen Interessen entspricht. Und man weiß nicht so recht, was man davon halten soll. Die menschliche Seite, das alltägliche Leben, die neue Lebensqualität, die Stimmungen und Hoffnungen der Menschen sowie die faszinierenden kulturellen Leistungen werden nämlich kaum gesehen.
Ich meine, der Westen macht es sich mit seinem eher negativen Chinabild zu einfach. Im 19. und im 20. Jahrhundert war man Kolonialmacht; die Kolonialmächte, die China nur in Teilen kontrollieren konnten, verursachten vor allem ein großes Chaos. Dennoch sprach man seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von der Gelben Gefahr, zu dem der sich später die Rote Gefahr gesellte. Dabei vergaßen die Mächte, dass sie selber diese Gefahr für China darstellten. Selbst ein Urteil wie Chinesen sind fleißig klingt negativ, denn es wird bestimmt der Nachsatz folgen, dass es sich um den Ameisenfleiß entindividualisierter Wesen handelt, die im Getriebe bloß funktionieren müssen. Das ist, wie vieles andere auch, Interpretationssache. Ich habe vor allem junge Leute kennengelernt, die ihre Bildung, ihre Karriere und ihre Interessen vor Augen haben und oftmals eine südländische Mentalität besitzen, wobei der Yangtze China recht schematisch in Nord- und in Südchina unterteilt.
Trotzdem, dass China eine alte nachwirkende Hochkultur hervorbrachte, wird in Teilen der leidlich gebildeten westlichen Bevölkerung gewusst, eine Hochkultur, die weit vor unsere Zeitrechnung zurückreicht. Zu den Zeiten von Hellas und Rom war das ferne China rückblickend betrachtet selbst „kulturelle Antike“, die den ostasiatischen Raum beeinflusste und prägte – Japan und Korea einbezogen. In das vom Westen kontinuierlich beargwöhnte, zuweilen auch bewunderte China, das freilich mehr ein Kontinent für sich als ein Land ist, bin ich als neugieriger Mensch nicht nur gereist, sondern ich bin nach China geflogen, um junge Leute ‒ um Studenten und Studentinnen ‒ in deutscher Sprache, Landeskunde, Literatur und Philosophie zu unterrichten.
Die Erfahrungen, die ich vor Ort gemacht habe, waren und sind so überwiegend positiv, dass ich als kritisch denkender Deutscher (aus Deguo, dem Land der Moral kommend) Mühe habe, sie überhaupt auszudrücken. Konfuzius‘ (551–479 v. u. Z.) Satz: „Es ist eine Freude, wenn Freunde aus der Ferne zu Besuch kommen“, gilt im heutigen China noch immer und wird oftmals, wie auch anderes von Konfuzius, zitiert. Das heißt, die intensive Gastfreundschaft, die Freundlichkeit, Offenheit und die herzliche Wärme der Chinesen lassen sich meinen Erfahrungen nach kaum übertreffen. Solche Erfahrungen machte ich im relativ liberalen China der 2010er-Jahre unter Leuten, die, von der wirtschaftlichen Entwicklung inspiriert, optimistisch und fröhlich in die Zukunft blickten. Ich muss wohl zugeben, dass ich als westlicher Hochschullehrer und Schriftsteller vor Ort ein wenig privilegiert gewesen bin, aber: Die Stimmungslage erwies sich als mehr als gut; die Studenten und jungen Leute sind besonders motiviert, bildungsversessen und lernfreudig, sodass das Unterrichten in China zu den besonders anregenden Erfahrungen zählt. Für diese junge dynamische und selbstbewusste Generation fand ich die Bezeichnung Build-Your-Dream- oder kurz BYD-Generation, wohl wissend, dass ich dabei eine chinesische Automarke als Metapher verwendet habe.
Den jungen Leuten verdanke ich viel: Dazu gehören die familiären Homestays, durch welche ich Land und Leute gut kennenlernen konnte, gemeinsame Reisen und, last not least, einen faszinierenden, ja wohltuenden Unterricht, bei dem ich Begriffe wie Bildungsduft, Bildungsglück und Bildungsfleiß lernte. Manchmal fragte ich mich, wer unterrichtete eigentlich wen, der Dozent die Studenten und Studentinnen oder die Studentinnen und Studenten den Dozenten? Sagen wir es so, für beide Seiten war es ein nicht enden wollender Lernprozess, der die Neugier auf andere Kulturen antrieb und durch Höhen und Tiefen des alltäglichen Lebens, des entspannten Lebens auf dem Campus, durch die älteren und neueren Gefilde der Literatur sowie zu vielen Reisezielen führte, in Städte wie Hangzhou, Shanghai, Beijing, Xian sowie in ländliche Gebiete wie Wuyuan (Provinz Jiangxi ), Jiuquan (Provinz Gansu). Im Norden war es der Weg auf der Route der historischen ‒ jetzt aber per Autostraße und Schienenverkehr modernisierten ‒ Seidenstraße von Xian bis nach Dunhuang am Rand der Wüste Taklamakan, nachdem zuvor die Ausläufer der Wüste Gobi durchquert wurden. Mein literarisches Ergebnis heißt: „Schöne Wolken treffen – eine chinesische Reisenovelle“, aber das ist nur der erste Teil einer Trilogie. ‚Schöne Wolken‘, der Name einer Studentin, ist ein sprechender Name; das Phänomen der sprechenden Namen greife ich in meinen Erzählungen gern auf.
Bevor ich einige typische Dinge aus dem alltäglichen Leben benenne, möchte ich unbedingt die gute Stellung der Frau hervorheben. Im Klartext: Die Stellung der Frau ist in China bedeutend besser als in vielen anderen Ländern, was sich in der sehr guten Bildung und Ausbildung der Frauen sowie in ihrer späteren Berufstätigkeit zeigt. In gesellschaftlicher Hinsicht sind die chinesischen Frauen Hoffnungsträgerinnen, die den anderen Teil des Himmels bilden, da kommen sonst nur ein paar westliche (skandinavische) Länder mit. Auch das fortgeschrittene Japan hinkt hinsichtlich der Frauenemanzipation hinterher. China ist jung, dynamisch, lebendig, vor allem ist das Land frauenfreundlich. Dabei lieben Chinesinnen und Chinesen die Harmonie und den ausgewogenen Gleichklang von Yin und Yang. Dass man der Bildung, dem selbstbestimmten, aber auch dem entspannten kollektiven Leben so viel Bedeutung beimisst, ist besonders erfreulich und zählt zu den Quellen der Inspiration.
Typisch chinesisch – abseits der großen Fragen und Probleme gibt es eine Reihe von Dingen, von denen ich einige aufzählen und kurz erläutern will. Dass in China bei der Festlegung von Festen und Feiertagen der kalendarische Mondkalender gilt, war für mich im wirtschaftlich und im gesellschaftlich fortgeschrittenen China eine der größten Überraschungen. Das Frühlingsfest, das Drachenbootfest, das Mondfest … werden nach diesem Kalender bestimmt; astrologisch relevant soll er ebenfalls sein. Zum beweglichen Mondfest (zwischen Mitte September und Anfang Oktober) ist ganz China romantisch, geht in die nächtliche Landschaft hinaus oder besteigt, soweit möglich, die Dächer der Häuser, um Verse an die „Frau im Mond“ zu ersinnen und/oder um in den Schalen mit Reiswein den sich spiegelnden Mond in fröhlicher Gesellschaft einzufangen. Während der drei Tage des Mondfestes und darüber hinaus verschenkt und genießt man Mondkuchen, kreisrunde, mondrunde Gebäckteilchen mit Süßkartoffeln, Bohnen, Sesam sowie mit einer Paste aus dem Samen der Lotuspflanze gefüllt.
Ließe man sich auf das Thema Küche ein, könnte man Bände füllen. Ich greife nur wenige Dinge auf. Bestimmt wird man irgendwann mit dem Sichuan- oder Blütenpfeffer seine Erfahrungen machen, der in der Lage ist, die Zunge zu euphorisieren. Ebenso typisch sind die 1000-jährigen Eier, die freilich um vieles jünger sind. Die rohen Eier werden nach einer bestimmten Rezeptur für etwa drei Monate eingelegt; das macht sie aseptisch (keimfrei). Das Eiweiß gelatiniert, das Dotter verfärbt sich blaugrün. Anfangs war ich skeptisch, aber mittlerweile liebe ich den aromatischen Geschmack eines zerkleinerten Eis in der Reissuppe oder in einem Tofu-Gericht. Kurz erwähnt seien Jiaozi, die chinesische Version der Maultaschen: Sie werden mit Hackfleisch – oder Garnelen ‒ mit Pilzen, Gemüse … gefüllt und delikat gewürzt. Zum Frühlingsfest – zum Neujahr nach dem chinesischen Mondkalender ‒ stellt die Familie die Jiaozi gemeinsam her. An diesen Tagen wird auch Mah-Jongg gespielt, deren komplizierte Regeln für Ausländer recht mühsam zu erlernen sind.
Nicht wenige halten den kandierten Weißdorn für ein Kennzeichen Beijings und des nördlichen Chinas. Es handelt sich um mehrere, auf einem Spieß aufgesteckte größere Weißdornfrüchte, die in Mengen auf Wagen von fliegenden Händlern transportiert und verkauft werden. Was fehlt in der Liste? Als typisch chinesisch könnte der rote Umschlag gelten. Keinesfalls meint er das Parteibuch, sondern der Umschlag wird zu unterschiedlichen Anlässen mit Geldscheinen gefüllt – Anlässe gibt es viele: Geburtstage, Neujahr, Schulabschlüsse, Hochzeiten … Überhaupt wird in China dem (taoistischen) Geldgott (Cai Shen), der eigene Tempel hat, gehuldigt. Das mit der Religion wird recht locker gesehen, ein Chinese kann drei Religionen (Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus) gleichzeitig haben; er kann religionslos sein und trotzdem die Tempel besuchen; bloß Sekten mag man nicht, sie stören mit ihrer Verbohrtheit die über allem stehende Harmonie. Ob Religion das Opium des Volkes ist? Kann sein, solange man zum Volksschnaps (Erguotou) greifen kann, der so schlecht nicht ist ‒ er wurde dreimal destilliert. Der hochkarätige aromatische Maotai, ein aus roter Hirse und Weizen gebrannter Schnaps, ist freilich ein unübertreffbares Destillat.
(Wulf Noll ist u.a. Autor des China-Romans Schöne Wolken treffen)
Gewusst? China ist so groß wie ganz Europa und obwohl sich das gesamte Staatsgebiet über vier Zeitzonen-Breiten erstreckt, existiert nur eine Zeitzone – daher geht mancherorts die Sonne erst um 10:00 Uhr vormittags auf. Und obwohl es über 700 chinesische Familiennamen gibt, teilen sich die meisten Chinesen lediglich etwa 20 sehr häufig vorkommende: Die Top 5 sind Wang, Chen, Li, Chang und Liu. 54 Millionen Chinesen sind Christen, damit gibt es in China mehr Anhänger des christlichen Glaubens, von den 60 Millionen Italienern sind nämlich rund 78 Prozent Christen – so zählt Jesus Christus neben Richard Nixon und Elvis Presley zu den drei bestbekannten westlichen Namen in China. Im alten China bezahlte man Ärzte nur, wenn der Patient gesund wurde bzw. blieb. Heute hat China ein staatliches Wetteränderungsamt, das sich bei wichtigen Großveranstaltungen um schönes Wetter kümmert. Seit 2013 gibt es in China ein Gesetz, das vorschreibt, dass erwachsene Kinder ihre Eltern regelmäßig besuchen müssen. Der Gebrauch von Toilettenpapier ist in China bereits seit 851 schriftlich belegt: Ein Reisender hielt damals fest, dass die Chinesen nicht sehr sorgfältig wären, da sie nur Papier nach dem Klogang nutzten, anstatt sich mit Wasser zu reinigen – und der Gelehrte Yan Zhitui schrieb 589, dass er niemals Papier mit Zitaten oder Kommentaren der Weisen für die Toilette nutzen würde. Statt Windeln tragen chinesische Babys übrigens auch heute größtenteils ganz traditionell Kaidangku – Hosen mit einem Schlitz am Po. Und wenn die Kleinen ein großes oder kleines Geschäft erledigen müssen, tun sie das eben, egal wo, auch mitten auf der Straße. Spucken, Gähnen, Grunzen und Rülpsen – auch das sind in China völlig normale Verhaltensweisen, es gehört zu den üblichen Tischmanieren dazu. Auch interessant: Alle Pandas weltweit gehören dem chinesischen Staat – dieser verleiht die Bären gegen eine bestimmte Gebühr an ausgewählte Zoos: Insgesamt sind es nur 18 weltweit. Und wird ein Babypanda geboren, wird dieser dieses nach einer gewissen Zeit immer nach China – stets mit FedEx – zurückgeschickt, um den Genpool zu erweitern. Auch die Hälfte der Schweine weltweit gehört China, durchschnittlich verzehrt die chinesische Bevölkerung 1,7 Millionen Schweine täglich. Übrigens soll das erste Speiseeis vor mehr als 4.000 Jahren in China hergestellt worden sein: Man vermischte dazu Milch, Reis und Schnee. Die Chinesen waren außerdem die Ersten, die Gas und chemische Waffen im Krieg eingesetzt haben – Europäer haben das erst 2.000 Jahre später im Ersten und Zweiten Weltkrieg getan. Während dieser Zeit war der Hafen in Schanghai übrigens der einzige, der vor dem Holocaust flüchtende Juden ohne Visa aufnahm.
Typisch chinesisch! ist ein Auszug aus: