Villa Diodati am Genfer See, Lord Byron und Mary Shelleys Frankenstein

Villa Diodati Tor
Die Villa Diodati gilt als "Geburtsstätte" von Frankenstein © if-reisebuch.de
Villa Diodati Haus

Ist hier der Geburtsort des phantastischen Horror-Roman-Klassikers Frankenstein von Mary Shelley?

In der schönen Villa mit dem noch schöneren Ausblick auf den Lac Leman und die Stadt Genf jedenfalls trafen im düsteren Sommer 1816 einige bedeutende Persönlichkeiten der englischen romantischen Literaturszene zusammen und vertrieben sich die Zeit mit Diskussionen, Lektüre, phantasievollen Spielen und wohl auch der Einnahme von Opiaten. Heute pilgern viele Touristen aus aller Welt an diese Stätte, um noch etwas vom magischen Ambiente und dem Geist der lange verblichenen Genies zu erhaschen.

Villa Diodati mit Mauer an der Straße
Villa Diodati Mauer

Leider ist die Villa Diodati im Chemin de Ruth 9, in Cologny, einem gepflegten Vorort von Genf an der Südostseite des Sees, in Privatbesitz und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Eine massive, aber nicht zu hohe Mauer an der Straßenseite sowie ein sich anschließender Zaun mit verriegeltem Tor an der Seeseite machen deutlich: Bis hierher und nicht weiter!

Als Besucher sollte man trotz berechtigter Neugier die Privatsphäre der aktuellen Eigentümer respektieren und seinen kulturhistorischen Eifer zügeln, zumal genügend Einblicke auf das berühmte Gebäude gewährt bleiben und die exponierte Lage sowie das edle Ambiente die Enttäuschung über den verwehrten Zugang zumindest ansatzweise kompensieren können.

Villa Diodati Tafel mit Inschrift Byron

An der Villa prangt seitlich eine schlichte Tafel mit einer Inschrift, die allerdings nur an den englischen Dichter Lord Byron erinnert, der das Haus 1816 gemietet hatte und dort ausgewählte Gäste und Freunde aus der Heimat empfing.
Ein Jahr zuvor, im April 1815, war auf der indonesischen Insel Sumbawa der Vulkan Tambora ausgebrochen und hatte Gas und Asche in die Atmosphäre geschleudert. Das führte dazu, dass Monate später sich der Himmel über Nordamerika und Teilen Europas nachhaltig verdunkelte, so dass schließlich 1816 als „Jahr ohne Sommer“ mit Überschwemmungen, Missernten und Hungersnöten in die Geschichtsschreibung einging.

Es fügte sich, dass ausgerechnet in diesem kalten Katastrophensommer Mary Wollstonecraft Godwin (spätere Shelley) mit ihrem Liebhaber, dem Dichter Percy Shelley, dem gemeinsamen Sohn William und der Stiefschwester Claire über den heimgesuchten Kontinent reisten und außerhalb von Genf in einer abgelegenen ruhigen wie bescheidenen Villa, dem Maison Chapuis, direkt über dem See Quartier nahmen. Bald darauf traf Shelleys Freund George Lord Byron ein, eine Zusammenkunft, die wohl von Claire arrangiert worden war, Byrons damaliger Geliebten, die zu diesem Zeitpunkt bereits von ihm schwanger war. Byron mietete die repräsentativere Villa Diodati, nur wenige hundert Meter oberhalb des Domizils der Shelleys, wo er sich für einige Monate mit seinem Leibarzt John Polidori und einigen Dienern niederließ. 

Villa Diodati Tafel

Auch wenn die Geselligkeit der beiden kleinen Zirkel nicht spannungsfrei verlief, die unter ständiger skandalheischender Beobachtung der argwöhnischen einheimischen Bevölkerung agierten, so einte alle Anwesenden doch das gemeinsame Leiden am schrecklichen Wetter. Wenn es einmal nicht regnete, unternahm die Gesellschaft von kreativen Persönlichkeiten Ausflüge zu Pferde in die reizvolle Umgebung der Alpen oder mit dem Segelboot auf dem Lac Leman.

Abends dann versammelte man sich am knisternden Kaminfeuer im großzügigen Salon der Villa Diodati, wo die Freunde sich gegenseitig aus Werken zeitgenössischer Autoren vorlasen, mit Vorliebe aus (deutschen) Gruselgeschichten, die damals als Ausdruck „schwarzer Romantik“ sehr populär waren und die so wunderbar zum unzeitgemäß düsteren Sommer passten.

Es war dann angeblich George Byron, der den genialen Vorschlag unterbreitete, man möge zum Zeitvertreib in einen Wettbewerb miteinander treten, wer von ihnen die beste Gruselgeschichte verfassen könne. Diese Idee inspirierte seinen literarisch ambitionierten Leibarzt Polidori zu der kleinen Erzählung Der Vampir, die später vermutlich zu einer der Vorlagen für Bram Stokers Grusel-Klassiker Dracula wurde und somit eine bis heute reichende Tradition von Vampir-Geschichten begründete.

Doch damit nicht genug: Ausgerechnet die erst 18jährige literarische Debütantin Mary Wollstonecraft Godwin legte hier das Fundament für ihren brillanten Roman Frankenstein, der Anfang 1818 in England anonym herauskam und sich seitdem – auch mit Hilfe zahlreicher Verfilmungen im 20. Jhd. – zum erfolgreichsten Horrorroman aller Zeiten entwickelte. Der gedankliche Austausch innerhalb der „Diodati-Gruppe“ neben Byrons und besonders Shelleys Ansporn und Hilfe sowie die Gesamtkonstellation des Sommers 1816 dürften mit dazu beigetragen haben, dass der jungen Mary mit ihrem Erstlingswerk ein solch genialer Wurf gelang.

Genau 24 Jahre später, im Sommer 1840, kam Mary Shelley auf einer gemeinsamen Tour durch Deutschland und die Schweiz mit Ihrem Sohn wieder nach Genf. (Percy Shelley war bereits 1822 vor der toskanischen Küste mit seinem Segelboot verunglückt und ertrunken, Lord Byron kam zwei Jahre später in Griechenland als heroischer Kämpfer für die Unabhängigkeit des Landes von den Türken zu Tode.)

Mary fasste ihre Eindrücke der Wiederbegegnung in die folgenden melancholischen Worte:

"Endlich erhaschte ich einen Blick auf die Gegend, in der ich gelebt hatte, als ich meine ersten Schritte aus der Kindheit ins Leben machte. Dort - am Ufer des Bellerive - befand sich Diodati und unsere bescheidene Unterkunft, Maison Chapuis, kauerte unten am See. Alles war noch da, die Terrassen, die Weinreben, der Pfad bergauf, der sich durch sie hindurchwand, der kleine Hafen, in dem unser Boot vertäut gewesen war. Ich erkannte tausend winzige Besonderheiten - damals vertraut, dann in Vergessenheit geraten - und nun brachten sie Erinnerungen und Gefühle zurück. Bin ich noch der gleiche Mensch, der dort gelebt hatte, die Gefährtin der Toten?" (zitiert nach: Streifzüge durch Deutschland und Italien: In den Jahren 1840, 1842 und 1843 – Band 1,  Corso Verlag 2017)

Auch über 200 Jahre nach dem literaturgeschichtlich so bedeutsam gewordenen Zusammentreffen dieser herausragenden Persönlichkeiten kann man dort auf ihren Spuren wandeln und so tun, als wäre die Zeit stehen geblieben...

Villa Diodati über dem Genfer See

Heute erreicht man die legendäre literarische Brutstätte Villa Diodati bequem alle 15 Minuten mit dem Bus Nr. 9 aus dem Zentrum von Genf in einer guten halben Stunde oder noch komfortabler in 20 Minuten mit dem Auto (Parkplätze im Umfeld vorhanden). Wenige Meter neben dem Grundstück der Villa befindet sich der kleine, fast baumlose Park „Cologny Spot La Capite“ mit Bänken zum Verweilen und herrlichem Blick auf den See und die Stadt. Ein Hinweisschild der Gemeinde Cologny erinnert an den historischen Ort und gibt den Besuchern klare Hinweise, wie man sich hier zu verhalten habe. Zurück nach Genf kommt man leicht zu Fuß über den Chemin Byron hinunter zum See und dort entlang der Promenade.