Raynor und Moth leben bereits seit einiger Zeit in ihrem neuen Wohnsitz in Cornwall. Wie in den vorangegangenen Büchern spielt der besorgniserregende Gesundheitszustand von Moth wieder eine zentrale Rolle. Er leidet seit mehreren Jahren unter CBD (kortikobasale Degeneration), einer Krankheit, bei der seine Gliedmaßen, Organe und Sinne allmählich alles verlernen würden, was sie einmal konnten, und die unweigerlich zum Tode führen würde. Zweimal schien er die Krankheit bereits besiegt zu haben, Davon wird in „Der Salzpfad“ und „Wilde Stille“ erzählt. „Überland“ ist die Fortsetzung der berührenden Geschichte des Ehepaares Winn.
Moth’s Zustand ist bedrohlicher als je zuvor. Die Ärzte geben ihm noch eine geringe Lebenserwartung und raten ihm, jede Anstrengung zu vermeiden, „…und passen Sie beim Treppensteigen auf!“ Obwohl die Krankheit überhand über seinen Körper zu gewinnen scheint, ist Moth von Anfang an voll dabei, als Raynor beiläufig den 370 Kilometer langen Cape Wrath Trail erwähnt. Aus lauter Verzweiflung, trotzdem oder gerade deshalb begeben sie sich tatsächlich auf eine neue Wandertour. Zweimal ist es durch das Bewältigen einer langen Wanderstrecke bereits gelungen, dass sich Moths Gesundheit stabilisiert hat. Bei den langen Wanderungen kam er an seine körperlichen und mentalen Grenzen und hat sie erfolgreich überwunden. Nun fordert er das Schicksal erneut heraus.
Der Cape Wrath Trail beginnt in Fort William, führt über die schottischen Highlands und endet am nordwestlichsten Punkt Großbritanniens. Er gehört zu den schönsten, aber auch schwierigsten und anspruchsvollsten Wanderwegen des Landes. Die Winns gehen ihn in entgegengesetzter Richtung, von Norden nach Süden. Es geht bergauf, bergab, durch sumpfiges und unwegsames Gelände, manchmal auch querfeldein. Die körperliche Anstrengung, die der Weg Raynor abverlangt, ist bei Moth noch um einiges größer, zumal das Wetter auch zu wünschen übriglässt. Obwohl sie von Gewissensbissen geplagt ist, ihrem kranken Mann diese Tour und die Strapazen überhaupt zugemutet zu haben, ist er die treibende Kraft, dass sie nach dem Cape Wrath Trail auf dem Weg nach Süden einen Wanderweg an den nächsten fügen und nach vier Monaten beide zu Fuß und wohlbehalten wieder zu Hause eintreffen.
Raynor Winn versteht es nicht nur, ihre Emotionen, Zweifel und Ängste glaubhaft wiederzugeben, sondern auch die raue Schönheit der Natur Schottlands auf den Leser einwirken zu lassen. Sie weist auf sicht- und spürbare Veränderungen durch den Klimawandel hin und zeigt, wie wichtig es ist, Respekt vor der großartigen Natur zu haben.
Sprachlich ist das Buch ein Genuss, wozu auch Christa Prummer-Lehmair, Heide Horn und Rita Seuss in der Übersetzung aus dem Englischen beigetragen haben.
Raynor Winn gibt immer wieder Rückblicke auf ihre Vergangenheit. So kann sich auch jeder, der „Der Salzpfad“ und „Wilde Stille“ nicht gelesen hat, in diesem empfehlenswerten Buch zurechtfinden.
Raynor Winn, Überland, TB, 352 Seiten, Dumont, 17,95€